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aviso 3 | 2016

ANTHROPOZÄN - DAS ZEITALTER DER MENSCHEN

COLLOQUIUM

Risikomündigkeit

Mit den komplexen Auswirkungen

moderner Technik, Lebensweisen und

Wirtschaftsformen ist ein hoher Grad

an schwer vorhersehbaren Folgen ver-

bunden, was systemtheoretisch auch als

»systematisches Nichtwissen« bezeich-

net wird. Gemeint ist damit, dass viele

Entwicklungen aufgrund der komplexen

Wechselwirkungen der interagierenden

ökologischen und sozialen Systeme prin-

zipiell gar nicht tiefenscharf vorherge-

sehen werden können. Ebenso müssen

z. B. auch Pfadabhängigkeiten von be-

stimmten technischen Optionen und

Entwicklungen beachtet werden. Da

auch das Nichthandeln in dieser Ent-

wicklungsdynamik gravierende Folgen

haben kann und bisweilen möglicher-

weise indirekt ein höheres Risiko er-

zeugen kann, als wenn man sich für

eine bestimmte Option entscheidet, ist

die Abwägung auch ethisch vor neue

methodische Schwierigkeiten gestellt.

SO IST ES beispielsweise denkbar, dass

die Entscheidung gegen das Risiko der

Kernenergie faktisch dazu führt, dass

möglicherweise noch gravierendere Risi­

ken der fossilen Energieversorgung ver-

stärkt werden (so ein Vorwurf an die

gegenwärtige deutsche Energiewende).

Die Frage ist, ob man die unterschied-

lichen Arten von Risiken überhaupt

angemessen vergleichen kann. Es liegt

auf der Hand, dass dafür jedenfalls die

klassische Risikotheorie, die nach dem

Versicherungsprinzip »Schadensaus-

maß mal Wahrscheinlichkeit« vorgeht

und vergleicht, hier nicht ausreicht, um

rationale Entscheidungen zu generieren.

VERANTWORTUNG FÜR die techni-

schen und gesellschaftlichen Entwick-

lungen braucht hier eine neue Matrix

von Entscheidungsverfahren. Dazu sind

unterschiedliche Risikoarten zu unter-

scheiden, weil sie eine je andere Antwort

erfordern. Mit Blick auf Klimaschutz

und Energiewende sind insbesondere

diskursive Verfahren angeraten, weil

die erforderlichen Maßnahmen tief in

die Lebensgewohnheiten der Bürger

eingreifen und deswegen zunächst ein

Verständnis dafür erzeugt werdenmuss.

Zudemmüssen die Bürger sich selbst als

wichtige Akteure begreifen, um lokale

Lösungen zu entwickeln. Damit besitzt

die Entwicklung gesellschaftlicher Risi-

komündigkeit imAnthropozän zugleich

das Potenzial, Demokratie und Partizi-

pation voranzutreiben. Risikomündig-

keit ist die Leittugend der Verantwor-

tung im Anthropozän.

Green Development Rights

Eine wesentliche Manifestation des

Anthropozäns ist der Klimawandel. Die

Suche nach einer akzeptanzfähigen Syn-

these aus Klimaschutzpflichten und Ent-

wicklungsrechten ist eine der großen

politischen Aufgaben der Gegenwart,

die philosophisch vor allem unter dem

Stichwort »green development rights«

scher Sozialethik ist es, neue Muster für

eine hinreichend resiliente Koevolution

von sozialen, ökonomischen und ökolo-

gischen Systemen zu entwickeln. Dies

erfordert politische Steuerungsmodelle,

die kontextsensibel, fehlerfreundlich so-

wie innovationsfähig sind und robuster

als die klassischen Theorien der zent-

ralen Planbarkeit mit Kontingenz und

Ungewissheit umgehen.

Resilienz ist die pragmatisch-postuto-

pische Variante der Nachhaltigkeit, die

nicht bei dem Versprechen einer global

und intergenerationell gerechten Ent-

wicklung ansetzt, sondern bei der Stär-

kung individueller sowie institutioneller

Ressourcen für Anpassung und Trans-

formation.