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Mit dem Gletscher telefonieren
Klangkünstler Kalle Laar (Krailling und Wien) geht es
darum, akustischeWirksamkeiten auszuloten, um, nach Jah-
ren des Debattierens auf politischer und gesellschaftlicher
Ebene, aktuelle Themenbereiche wie Klimawandel, anste-
hende Weichenstellungen im Umgang mit unserer Umwelt
oder gemeinschaftlicheWandlungsprozesse für jeden »erleb-
bar« zumachen. Ausgehend von der Erkenntnis, dass unsere
Empfindungen in Bezug auf die uns ständig und aggressiv
umgebende Bilderwelt weitgehend beherrschbar sind, hin-
gegen die Emotionen, die Klänge und Töne in uns hervor-
rufen, unser Gehirn und (Unter-)Bewusstsein unmittelbar
erreichen, entstand die interaktive Reihe »Call me«. Öffentlich
zugängliche Telefonnummern auf trashig gestalteten Visiten-
karten bieten den direkten Draht zu Repräsentanten mäch-
tiger Akteure wie Ministerien, Kraftwerken, Konzernen und
Behörden (»Klima und Hotline«), aber auch zu schmelzenden
Gletschern (»Calling the Glacier«) oder zu neuen Insekten-
arten mit bislang bei uns unbekannten Krankheitserregern
(»Mosquito«). Wir hören Geräusche von Naturphänomenen,
die durch die globale Erwärmung verursacht wurden, ande-
rerseits wird uns das direkte Gesprächmit Menschen überall
auf dieser Welt ermöglicht, um über unsere »Angst vor dem
postfossilen Zeitalter« zu sprechen.
DAS ERSTE PROJEKT
aus dieser Serie wurde 2007 auf der
Biennale in Venedig vorgestellt und feiert dieses Jahr sein
10-jähriges Bestehen: »Calling the Glacier« ist die weltweit
einzige direkte telefonische Verbindung mit einemGletscher.
EinMikrofon vor Ort überträgt die Geräusche aus der Natur
direkt und unbearbeitet an den Anrufer. Man hört fließendes
Wasser unterschiedlicher Intensität, gelegentliches Knacken
und andere Klänge, die ein lebender Gletscher den Jahres-
zeiten folgend von sich gibt. Wenn man sich entscheidet, die
Nummer des Gletschers auf seinem Telefon zu wählen, wird
man dort sein, in Echtzeit, jederzeit, von überall. Nicht die
linke Seite
Landart im Altvatergebirge/Jeseníky: Hier haben die
tschechischen Künstler REZ und Michal Mihalcˇik an Stelle der zerstör-
ten Kirche eine Skulptur mit Durchblick auf die Landschaft
geschaffen, wo ehemals die Ortschaft Grenzdorf/Hranicˇky lag.
rechte Seite
Das Projekt »Calling the Glacier« von Klangkünstler
Kalle Laar.
© Martin Bednarski | Mila Pavan | alle anderen Fotos des Artikels: »Im Zentrum«
sensationelle Berichterstattung über fremde ferneWelten oder
die Übertragung von Informationen stehen imVordergrund,
sondern der persönliche Bezug zu einemGeschehen, das uns
alle betrifft. Aus Erfahrung wissen wir, dass diese Visitenkar-
ten nicht gleich wieder entsorgt werden. Im Gegenteil. Man
behält sie in der Brieftasche oder legt sie auf den Schreibtisch,
und irgendwann greift man zum Telefon.
Unbekannte Flecken auf der Landkarte
Historische Ereignisse, aktuelle soziale und politische Ten-
denzen oder länderübergreifende Begegnungsräume sind
bekanntlich ideale Rahmen für künstlerische Arbeit. Beson-
ders spannend aber wird es, wenn der Aktionsort in einer
Region liegt, die einst eine zentrale Rolle in der mitteleuro-
päischen Geschichte spielte, heute aber – vor allem für die
jüngere Generation hierzulande – ein gänzlich unbekannter
Flecken auf der Landkarte ist. Spannend deswegen, da die
Projektrecherchen in einer solchen Art von Nische häufig
ungeahnte persönliche Bezüge und Vernetzungen oder gar
familiäre Wurzeln offen legen. Die 2016 gegründete und
langfristig angelegte Reihe »ImZentrum – Jeseníky/Altvater
Festival für Kunst, Literatur und Musik« ist so ein Projekt.
Ausgehend von einst blühenden, heute aber in der Bedeu-
tungslosigkeit versunkenen Ortschaften im ehemaligen
Österreichisch-Schlesien beleuchten deutsche und tsche-
chische KünstlerInnen, SchriftstellerInnen undMusikerInnen
die Grenzregion und ihre Historie mit Blick in die Zukunft.