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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
verschlechtert hatte. Bei ihrem Arbeitskampf, der die Ener-
giesicherheit der Sowjetunion und damit die gesamte
Volkswirtschaft akut bedrohte, erhoben die Streikenden
zunehmend auch politische Forderungen. Sie zeigten sich
enttäuscht von Gorbatschows Perestroika und forderten
den entschiedenen Wandel der bestehenden Strukturen.
Zwar gelang es der Moskauer Regierung, mit Zugeständ-
nissen den Streik zu beenden. Doch der Autoritätsverfall
des Kremls war auch mit den anschließend neu verfügten
Streikgesetzen kaum mehr aufzuhalten. Schon knapp ein
Jahr später kam es erneut zu einem landesweiten Bergarbei-
terstreik. Auf dem Gründungskongress ihrer unabhängigen
Gewerkschaft warfen die Streikenden Gorbatschow eine
verfehlte Politik vor und sprachen ihm ihr Misstrauen aus.
Nicht nur in den Machtapparaten und parlamentarischen
Gremien, sondern auch auf der Straße formierte sich immer
stärkerer Widerstand gegen die erfolglose Reformpolitik
von oben, um durch eine „Perestroika von unten“ endlich
die lang ersehnte Wende zum Besseren zu erzwingen.
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Gorbatschow und Jelzin: Schaukelpolitik und
Schraubstock
Die führende Persönlichkeit der radikalreformerischen
Fraktion war neben dem Friedensnobelpreisträger Sacha-
row vor allem Boris Jelzin.
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Den hemdsärmeligen Gebiets-
parteichef hatte Gorbatschow 1985 aus dem Ural nach
Moskau geholt, damit dieser den verfilzten Parteiapparat
der Hauptstadt wieder auf Vordermann brachte. Von rusti-
45 Ebd., S. 264–272.
46 Timothy J. Colton: Yeltsin. A Life, New York 2008.
kaler Burschikosität und mit einem populistischen Instinkt
ausgestattet, gewann Jelzin mit spektakulären Aktionen
und Kampfansagen gegen das korrupte Parteiestablishment
die Sympathien der Bevölkerung. Als er 1987 in seinen
Attacken aber zu weit ging, demütigte Gorbatschow den
Nestbeschmutzer vor der versammelten Mannschaft des
Kremls und schob ihn auf das politische Abstellgleis. Als
Hoffnungsträger einflussreicher Moskauer Intellektueller
gelang Jelzin jedoch schon bald ein kaum mehr für mög-
lich gehaltenes politisches Comeback. Bei der Wahl zum
Volksdeputiertenkongress siegte er im prominenten ersten
Moskauer Wahlkreis mit der grandiosen Stimmenmehrheit
von 88 Prozent. Getragen von diesem großen gesellschaftli-
chen Zuspruch, entwickelte sich der vormalige Parteimann
zunehmend zum Parteirebellen, der den Volksdeputierten-
kongress erfolgreich zu seiner politischen Bühne machte.
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Während Gorbatschow weiter an der Allmacht der
Partei festhielt, um sie für seine Perestroika nutzen zu
können, drängten Jelzin und seine Mitstreiter darauf,
die Partei zu entmachten, um ein Mehrparteiensystem
und damit den Übergang zur parlamentarischen Demo-
kratie zu schaffen. Diese Forderung entsprach ganz der
gesellschaftlichen Stimmung. Im Dezember 1989 gaben
bei einer repräsentativen Umfrage nur noch 19 Prozent
der befragten Sowjetbürger an, der Partei weiter zu ver-
trauen.
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Die Befürchtung des konservativen Parteies-
tablishments, Demokratisierung und Glasnost könnten
mit ihren Sturmfluten der öffentlichen Kritik die Funda-
mente der Parteimacht unterspülen, bewahrheitete sich.
Im Laufe des Jahres 1990 folgten Hunderttausende dem
Beispiel Jelzins und traten demonstrativ aus der Partei aus,
die damit politisch endgültig abgewirtschaftet hatte.
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Mit den von ihm eingeleiteten Demokratisierungspro-
zessen wollte Gorbatschow die verkrusteten Strukturen
aufbrechen und so die Partei neu beleben; tatsächlich ver-
schaffte er damit den Parteikritikern einen enormen poli-
tischen Auftrieb und beraubte sich selbst der Möglichkeit
des „Durchregierens“. Der immer stärkere Gegenwind,
der ihm als Parteichef entgegenschlug, zwang Gorba-
tschow dazu, im Februar 1990 die Führungsrolle der Par-
tei aus der Verfassung der Sowjetunion zu streichen. Einen
47 Huber (wie Anm. 3), S. 173–193.
48 Neutatz (wie Anm. 40), S. 511 f.
49 Jonathan Harris: Subverting the System. Gorbachev’s Reform of the Party
Apparat, 1986–1991. Lanhan/Boulder/Oxford 2005; Gerhard Simon: Die
Entmachtung der KPdSU, in: Martin Malek/Anna Schor-Tschudnowskaja
(Hg.): Der Zerfall der Sowjetunion. Ursachen – Begleiterscheinungen –
Hintergründe, Baden-Baden 2013, S. 169–185.
Streik der Minenarbeiter im Bergbaugebiet Donbass, Juli 1989
Foto: ullstein bild/Sputnik