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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
Monat später ließ er sich vom Volksdeputiertenkongress
(allerdings nur noch mit 59 Prozent der Stimmen) in das
neu geschaffene Amt des Staatspräsidenten der Sowjet-
union wählen, um in dieser Funktion weiter das Ruder
der Macht in seinen Händen halten zu können.
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Zugleich stieg Jelzin immer mehr vom Widersacher zum
Herausforderer Gorbatschows auf. Im März 1990 hatte es
nach dem Vorbild des gesamtsowjetischen Volksdeputier-
tenkongress auch in mehreren Sowjetrepubliken Wahlen zu
einem neuen, parlamentsähnlichen Obersten Sowjet gege-
ben. In der bei weitem wichtigsten russischen Teilrepublik,
der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepub-
lik), mussten diejenigen, die zu Gorbatschow standen, emp-
findliche Wahlniederlagen hinnehmen. Die Deputierten des
neu gewählten russischen Obersten Sowjets bestimmten Jel-
zin im Mai 1990 zu ihrem Parlamentspräsidenten. Sie über-
trugen ihm damit ein wichtiges politisches Amt, von dem aus
er Gorbatschow zunehmend in die Defensive drängte.
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In
Moskau etablierte sich eine Doppelherrschaft. Im „Schraub-
stock“, bei dem auf der einen Seite die Parteikonservativen
auf einen autoritären Kurswechsel drängten, auf der anderen
Seite die Radikalreformer um Jelzin beständig den Druck
erhöhten, versuchte Gorbatschow, mit einer Schaukelpolitik
seinen zentralistischen Kurs zu halten, und stellte sich ohne
vorzeigbare Ergebnisse bei der Verbesserung der gesell-
schaftlichen Situation damit immer mehr ins Abseits.
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Explosion des Ethnischen
Glasnost führte zur Entzauberung des Sozialismus und die
Demokratisierung zur Erosion der Parteimacht. Dadurch
kam es zu einer entscheidenden Schwächung des herrschen-
den Zentrums. Das stärkte die Fliehkräfte und führte in
den Peripherien zu einem nationalen Aufbegehren. Nach
dem ideellen Zusammenhalt zerfiel auch die territoriale
Integrität des Sowjetimperiums. Die dieser Desintegrati-
onsdynamik zugrundeliegende Problemkonstellation war
im strukturellen Kern der Sowjetunion angelegt.
Im Jahr 1989 war nur jeder zweite Sowjetbürger rus-
sischer Herkunft. Der sowjetische Parteistaat war mithin
kein russischer Nationalstaat, sondern stellte als Vielvöl-
kerimperium eine Union von fünfzehn Sowjetrepubliken
dar. Die sowjetische Verfassung von 1977 sprach ihnen
„nationale Staatlichkeit“, eigene Parteistrukturen und
50 Brown (wie Anm. 25), S. 327–339.
51 Huber (wie Anm. 3), S. 193–204.
52 Georgi Schachnasarow: Preis der Freiheit. Eine Bilanz von Gorbatschows
Berater, Bonn 1996, S. 177–190.
sogar das Recht auf Austritt aus dem föderalen Staatswesen
zu. Im Rahmen einer ethno-territorialen (Schein-) Föde-
ralisierung erhielten fast alle Nationalitäten meist dort,
wo sie die Bevölkerungsmehrheit bildeten, ein eigenes
Verwaltungsgebiet zugesprochen (je nach Größe in Form
einer autonomen Republik, eines autonomen Gebiets
oder Kreises). Hier sollten sie als sozialistische Nation
zueinander kommen und ihre Selbstbestimmungsrechte
ausüben. Ungeachtet dieser formal föderativen Strukturen
stellte die Sowjetunion aber ein zentralstaatlich organi-
siertes Machtgebilde dar. Die in der Verfassung verbriefte
Souveränität kam angesichts der klaren Dominanz der
Moskauer Machtvertikalen politisch kaum zum Tragen.
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Von Beginn an litt die sowjetische Nationalitätenpolitik
unter einem Zielkonflikt und verstrickte sich in Widersprü-
che, die in der Breschnew-Ära administrativ verdrängt und
von einer verlogenen Völkerfreundschafts-Rhetorik über-
tönt wurden. Einerseits förderte der Kreml in den einzelnen
Sowjetrepubliken die Entwicklung der nationalen Kader
und Kulturen. Durch die Bildungsreformen der Nachkriegs-
zeit gab es immer mehr qualifizierte, nichtrussische Kader,
die zunehmend die Partei- und Staatsapparate in den Repu-
bliken dominierten. Andererseits bestand der Kreml auf
dem Primat des Russischen, das als sprachlicher und kultu-
reller Kitt das sozialistische Vielvölkerreich zusammenhalten
sollte. In den Moskauer Zentralbehörden hatten darum vor
allem russische und russifizierte Kader das Sagen. Die Rus-
sen galten als „großer Bruder“ und „Reichsvolk“; sie bilde-
ten das Rückgrat des Imperiums und sollten allen anderen
Nationalitäten den Weg zum Kommunismus weisen.
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Als nationalitätenpolitisches Wunschziel der kommu-
nistischen Heilslehre gab die Parteiführung vor, dass der
Homo Sovieticus
seine beim Aufbau des Sozialismus erwor-
bene und gefestigte ethnische Identität abstreifen sollte, um
im postnationalen Zeitalter des „reifen Sozialismus“ nur
noch ein Vaterland zu kennen, nämlich den sowjetischen
Gesamtstaat. Die Präambel der Sowjetverfassung von 1977
gipfelte darum in der Behauptung, dass im Verlauf der Sow-
jetgeschichte eine „neue historische Gemeinschaft von Men-
schen – das Sowjetvolk – entstanden“ sei. Der vom Stolz auf
dieWeltmachtrolle getragene Sowjetpatriotismus vermittelte
die Vorstellung einer gemeinsamen Heimat, Geschichte und
53 Gerhard Simon: Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjet-
union. Von der totalitären Diktatur zur nachstalinistischen Gesellschaft,
Baden-Baden 1986; Terry Martin, The Affirmative Action Empire. Nations
and Nationalism in the Soviet Union, Ithaca 2001.
54 Jeremy Smith: Red Nations. The Nationalities Experience in and after the
UdSSR, Cambridge 2013, S. 216–255.