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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2

Einsichten und Perspektiven 2 | 16

beraubt würden. 

58

Die ökologischen Dramen, die sich

vielerorts abspielten, wurden als hochemotionalisierte

Bedrohungsszenarien inszeniert, um den Wunsch nach

mehr Souveränitätsrechten wirkungsvoll zum Ausdruck

zu bringen. 

59

Ein weiterer permanenter Zankapfel war die einseitige

Sprachenpolitik. Während alle Nichtrussen des Russi-

schen mächtig sein sollten, brauchte die russischspra-

chige Minderheit in den nichtrussischen Republiken die

dortige National- und Landessprache nicht zu erlernen.

Dadurch wurde die Integration der russischen Minder-

heit erschwert und das Russische privilegiert. Die Brisanz

der Sprachenfrage hatten die Verantwortlichen lange Zeit

ignoriert. Typisch dafür sind die arroganten Ausführungen

der russischen Redakteure einer Parteizeitung in Usbekis-

tan, die 1987 in ihrem instinktlosen Atheismus konsta-

tierten, dass „man die einprägsamen Worte Puschkins, die

vitale Kraft der Worte Gorkijs, die Schärfe und Gewalt

der Rede Lenins nicht mit dem unverständlichen Gemur-

mel und den abstrusen Predigten des Korans vergleichen

kann“. 

60

Angesichts derartiger diskriminierender Wer-

tungen begannen die Sowjetrepubliken, immer mehr auf

den verfassungsmäßigen Schutz ihrer Nationalsprachen zu

pochen, um deren Marginalisierung durch die Hegemo-

nie des Russischen entschlossen entgegen zu treten. 

61

Die Rache der Geschichte

Die Perestroika musste auch die nationalitätenpolitische

Brutalität des Stalinismus ausbaden, als die Wunden

der Geschichte mit Glasnost schmerzhaft aufbrachen.

Dadurch gewannen nationale Opfernarrative an Bedeu-

tung. Historischer Brennstoff befeuerte die Kritik an den

58 Die Regierungen der einzelnen Sowjetrepubliken durften nur maximal

zehn Prozent der Produktionstätigkeit auf ihren Territorien selbst ver-

walten, weil sich die mächtigen Moskauer Zentralministerien durch die

Kontrolle über die bedeutendsten Unternehmen in den Sowjetrepubliken

eigene unionsweite Wirtschaftsimperien aufgebaut hatten. Vgl. Uwe Hal-

bach: Der Zerfall der Union. Vom nationalen Aufbegehren zur Souverani-

tät, in: Eduard Schewardnadse/Andrej Gurkov/Wolfgang Eichwede (Hg.):

Revolution in Moskau. Der Putsch und das Ende der Sowjetunion, Rein-

bek bei Hamburg 1991, S. 176–195, hier S. 186; Gerhard Simon: Waren

die Republiken der Sowjetunion Kolonien?, in: Guido Hausmann/Angela

Rustemeyer (Hg.): Imperienvergleich. Beispiele und Ansätze aus osteuro-

päischer Perspektive. Festschrift für Andreas Kappeler, Wiesbaden 2009,

S. 105–122.

59 Zu diesem „Öko-Nationalismus“ vgl. Dawson (wie Anm. 4); Klaus Gestwa:

Ökologischer Notstand und sozialer Protest. Der umwelthistorische Blick

auf die Reformunfähigkeit und den Zerfall der Sowjetunion, in: Archiv für

Sozialgeschichte 43 (2003), S. 349–384.

60 Halbach (wie Anm. 57), S. 185.

61 Smith (wie Anm. 54), S. 244–251.

gegenwärtigen Missständen, um dem Ruf nach der Befrei-

ung vom Moskauer Diktat weitere Legitimation und

Motivation zu geben.

Im Baltikum entwickelte sich die öffentliche Thema-

tisierung des Hitler-Stalin-Pakts zu einem besonderen

Politikum. 

62

Mit diesem Teufelspakt hatten die beiden

skrupellosen Diktatoren im August 1939 Ostmitteleu-

ropa unter sich aufgeteilt, damit die baltischen Staaten

ihrer Eigenständigkeit beraubt und anschließend mit Ter-

ror- und Deportationswellen die dort bestehenden sozi-

alen Ordnungen zerstört. Um die gewaltsame Annexion

des Baltikums zu betonen und zugleich für die Unabhän-

gigkeit der baltischen Staaten zu demonstrieren, bildeten

am 23. August 1989 – anlässlich des fünfzigsten Jahrestags

des verbrecherischen Hitler-Stalin-Pakts – rund zwei Mil-

lionen baltische Sowjetbürger über eine Länge von 600

Kilometern von Tallinn über Riga nach Vilnius eine Men-

schenkette, die als „Baltischer Weg“ große internationale

Aufmerksamkeit fand. Mehrere hunderttausend Balten

kamen immer wieder auch zu großen Sängerfesten zusam-

men, um in bewegenden Liedern der eigenen Geschichte

zu gedenken und ihr nationales Aufbegehren mit einer

„singenden Revolution“ musikalisch zum Ausdruck zu

bringen. 

63

Der „Baltische Weg“: Menschenkette von Vilnius nach Riga und Tallin, 1989

Foto: ullstein bild/Sputnik

62 Aron (wie Anm. 11), S. 151–165; Altrichter (wie Anm. 38), S. 272–290.

63 Egidijus Vareikis: Die baltischen Staaten als Katalysatoren des Zerfalls der

UdSSR, in: Malek/Schor-Tschudnowskaja (wie Anm. 49), S. 311–326; Mi-

chael Garleff: Die baltischen Länder. Estland, Lettland, Litauen vom Mit-

telalter bis zur Gegenwart, Regensburg 2001, S. 180–186.