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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932
Einsichten und Perspektiven 2 | 17
Die Politisierung der Industriearbeiterschaft
Die Unmöglichkeit, auf demWeg der Verhandlung und des
Ausgleichs eine Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensver-
hältnisse zu erreichen, führte bei den russischen Arbeitern –
ungeachtet der drohenden Repressionen – zu einer hohen
Streik- und Protestbereitschaft. In den Fabrikhallen und
Schlafsälen begann sich ausgehend von neuen Untergrund-
organisationen ein revolutionärer Bazillus auszubreiten.
Nach dem politischen Scheitern der
Narodniki
sahen viele
russische Marxisten nicht mehr in den Bauern, sondern in
den Fabrikarbeitern die neue soziale Kraft, die bald stark
genug wäre, um die zarische Autokratie zu zertrümmern.
In seinem 1899 veröffentlichten, einflussreichen Werk
„Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“ trug Vla-
dimir Lenin zahlreiches statistisches Material zusammen,
um die revolutionäre Reife der russischen Arbeiterklasse
zu demonstrieren und zu erläutern, dass die sozialistische
Revolution nicht nur in den fortgeschrittenen Industrielän-
dern Europas, sondern auch im Zarenreich möglich sei.
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Schon seit 1883 hatten die russischen Sozialdemokraten
versucht, sich zu organisieren. Erst 1898 gelang dann in
Minsk die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiter-
partei Russlands (SDAPR). Sie erhielt rasch Zulauf. 1903
bestand die neue Partei schon aus 26 Teilorganisationen und
hatte 5.000 Mitglieder. Allerdings gerieten die Parteiführer
bald in Streit über den richtigen revolutionären Weg. Auf
dem 2. Parteitag in London setzten sich 1903 die radikalen
Kräfte um Lenin mit ihrer Forderung durch, die SDAPR in
eine konspirative Kaderpartei und Elitetruppe von Berufs-
revolutionären umzuformen, um kompromisslos nicht nur
den zarischen Staat, sondern auch die liberal-bürgerlichen
Kräfte bekämpfen zu können. Darüber kam es zum Bruch.
Die unterlegenen gemäßigten Kräfte bildeten als Mensche-
wiki fortan eine eigene Fraktion und konnten bald schon
wieder die Führung der SDAPR übernehmen, um die Lon-
doner Mehrheitsfraktion der sogenannten Bolschewiki in
der Partei vorübergehend zur Minderheit zu machen.
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84 Zur Rezeption von Marx in Russland und durch Lenin vgl. Figes (wie
Anm. 46), S. 152–167; Christopher Read: Lenin. A Revolutionary Life, Lon-
don 2005, S. 4–62; Jeffrey Brooks/Georgiy Chernyavskiy: Lenin and the
Making of the Soviet State, Boston 2007, S. 7–12. Zu Lenins Buch „Die
Entwicklung des Kapitalismus in Russland“; vgl. Robert Service: Lenin.
Eine Biographie, München 2000, S. 169–176.
85 Zur Parteigründung und zum Split in Bolschewiki und Menschewiki vgl.
Service (wie Anm. 84), S. 179–224; Dietrich Geyer: Lenin in der russischen
Sozialdemokratie. Die Arbeiterbewegung im Zarenreich als Organisati-
onsproblem der revolutionären Intelligenz 1890–1905, Köln 1962; Heinz-
Dietrich Löwe: Von der Industrialisierung zur Ersten Revolution, 1890 bis
1914, in: Schramm (wie Anm. 30), S. 203–336, hier S. 278–298; Alan
Woods: Bolshevism. The Road to Revolution, London 1999, S. 33–166.
Über ihre inneren Zwistigkeiten hinaus standen die sozial
demokratischen Geheimkomitees auch in erbitterter Riva-
lität zur zarischen Geheimpolizei. Diese trieb zum einen
sozialdemokratische Führungspersönlichkeiten wie Lenin
ins Ausland oder verbannte sie wie Stalin nach Sibirien.
Zum anderen gründete die Geheimpolizei unter der Lei-
tung von Sergej Zubatov lizensierte Gewerkschaften, um
mit dieser Form eines Polizeisozialismus die unzufriede-
nen Arbeiter davon abzuhalten, sich für die sozialdemo-
kratische Untergrundpartei zu engagieren.
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Zwar gelang es der russischen Sozialdemokratie zu
Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht, ihre neue Partei
organisation als Führungsorgan der Arbeiterbewegung zu
stabilisieren. Dennoch entwickelten vor allem immer mehr
Facharbeiter nach der Lektüre marxistischer Schriften als-
bald Denk- und Handlungsweisen sozialdemokratischer
oder gewerkschaftlicher Art. Einige von ihnen standen
fortan mit einem Fuß in der Fabrik, mit dem anderen im
revolutionären Untergrund. Ihr Verständnis vom Sozia
86 Pipes (wie Anm. 74), S. 34ff.
Die verfehlte Modernisierungspolitik des Zaren wurde anfangs noch vom
Zarenmythos verdeckt, jedoch schlug die Verehrung der Russen für Nikolaus II.
zur Revolution 1917 endgültig in Hass um.
Abbildung: sz-photo/Rue des archives/Tallandier