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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

reformieren beginnt.“ 

92

Auf diesen engen Zusammen-

hang von Reform und Revolution macht die Geschichte

des ausgehenden Zarenreichs nachdrücklich aufmerksam.

Angesichts des epochalen Umbruchs von der Agrar- zur

Industriegesellschaft, dem sich das Zarenreich nicht ent-

ziehen konnte, entwickelte sich mit den „Großen Refor-

men“ die Modernisierung von einer Herausforderung zu

einem sich verschärfenden Problem. In diesem Transfor-

mationsprozess sind die Voraussetzungen der Russischen

Revolutionen zu suchen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte Russland das Para-

debeispiel für ein tief zerrissenes und auseinanderdriftendes

Zeitsystem dar. Einerseits zu einem erhöhten industriellen

Entwicklungstempo fähig, stemmte sich der Zarenstaat

andererseits erbittert dessen politischen und gesellschaft-

lichen Konsequenzen entgegen. Er „baute Dämme, aber

brauchte Kanäle.“ 

93

Aus dieser gespaltenen Modernisierung

ergeben sich zwei unterschiedliche Interpretationsmuster,

die entweder ein Zuwenig an politischem Wandel oder ein

Zuviel an sozioökonomischem Wandel für das Heraufzie-

hen der revolutionären Situation verantwortlich machen.

Vertreter der ersten Sichtweise betonen, dass es Russ-

land zwar gelungen sei, die Rückständigkeit im Bereich

von Industrialisierung, Urbanisierung und Professionali-

sierung zu reduzieren. Selbst der Massenanalphabetismus

sei spürbar zurückgegangen. Auf ihre überkommenen Pri-

vilegien pochend, hätten sich die alten Machthaber aber

dem allgemeinen Strukturwandel und dem Anbruch einer

neuen Zeit verweigert und sich der Illusion hingegeben,

man könne immer mehr Fabriken eröffnen, brauche aber

kein Parlament einzuberufen. Daher sei die Transforma-

tion von einem ständischen Untertanenverband hin zu

einer mündigen Staatsbürgergesellschaft auf halbem Weg

steckengeblieben. Die russische Geschichte zu Ende des

19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts biete demnach

kein Bild eines allgemeinen Niedergangs, sondern viel-

mehr nur eines zunehmenden Verfalls des traditionellen

Zarismus, der seine eigene Modernisierung aussparte und

dadurch schwer auflösbare Antagonismen sowie massive

Autoritätsverluste und Legitimitätsprobleme heraufbe-

schwor.

94

92 Alexis de Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution, München 1978,

S. 176 (3. Buch, Kapitel 4). Dazu auch Robert T. Gannett: The Shifting

Puzzles of Tocqueville’s The Old Regime and the Revolution, in: Cheryl B.

Welch (Hg.): The Cambridge Companion to Tocqueville, Cambridge 2006,

S. 188–215.

93 Christoph Schmidt: Russische Geschichte 1547–1917, München 2009, S. 195.

94 Neutatz (wie Anm. 38), S. 87.

Die zweite Sichtweise geht von einer Skepsis gegenüber der

Vorstellung modernisierender Unbedingtheit aus. Sie richtet

den Blick stärker auf die inneren Widersprüche Russlands

bei seinem Gang ins Industriezeitalter und damit auf den

tiefen Bruch, der ins Mark der Geschichte des Zarenreichs

seit der von Peter dem Großen zu Beginn des 18. Jahrhun-

derts erzwungenen Öffnung des Landes führt. Die in der

Forschung oft verwandte Kategorie der Rückständigkeit

messe Russland an Kriterien, die es eigentlich nicht kannte,

und gehe von Voraussetzungen aus, die im Zarenreich

aber nicht gegeben wären.

95

Importierte Ideologien und

Technologien hätten sowohl die Bevölkerung als auch das

autokratische Regime unter zu hohen Veränderungsdruck

gestellt. Die Russischen Revolutionen müssten darum als

die Kulmination von Konflikten zwischen überschießenden

Reformambitionen und den weiterhin bestehenden vormo-

dernen Strukturen Russlands verstanden werden. Bei dieser

Sichtweise erfolgte die Modernisierung also nicht zu zaghaft,

sondern viel zu schnell. Die fortschrittsgierigen, erneuerungs-

wütigen Eliten hätten ganz auf den europäischen Weg in die

Moderne vertraut und damit leichtfertig die Entwicklungs-

chancen für einen eigenen russischen Weg verspielt. Bislang

habe die Forschung das laute industrielle und beschleunigte

Russland in ihrer Interpretation überbetont und dabei die

stille und langsame Zeit nicht genügend beachtet, in der das

Zarenreich noch eingebettet gewesen wäre. Dabei sei außer

Acht geraten, was infolge der Verschärfung des gesellschaft-

lichen Entwicklungstempos seit den „Großen Reformen“

alles auf der Strecke geblieben sei.

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Diese Interpretation greift die Denkfigur der Slavo-

philen aus dem 19. Jahrhundert auf, die damals schon

meinten, Russlands Zukunft liege nicht in der Gegenwart

Westeuropas, sondern darin, ausgehend von den eigenen

historischen Erfahrungen und gesellschaftlichen Voraus-

setzungen, einen eigenen Weg zu finden, der sich an der

konservativen Dreieinigkeit von Orthodoxie, Autokratie

und Nationalismus orientiere.

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Von diesem Blickwinkel

95 Eine gute aktuelle Diskussion des Rückständigkeitsparadigmas gibt der

Sammelband von David Feest/Lutz Häfner (Hg.): Die Zukunft der Rück-

ständigkeit. Chancen – Formen – Mehrwert, Köln 2016.

96 Schmidt (wie Anm. 93), S. 193 f.; Neutatz (wie Anm. 38), S. 54 f. u. 87.

97 Bei den Slavophilen handelte es sich um eine politisch-publizistische Be-

wegung, die sich für das „ursprüngliche Russische“ begeisterte und sich

nach 1836 in Auseinandersetzung mit den sogenannten „Westlern“ für

eine Rückbesinnung auf alte slawische Traditionen einsetzte, statt mit

aus Europa übernommenen Modernitätskonzepten dem Zarenreich den

Weg in die Zukunft zu bahnen. Zu dieser ideengeschichtlich bedeutsamen

und folgenreichen Debatte vgl. Jekaterina Lebedewa: Russische Träume.

Die Slawophilen – ein Kulturphänomen, Berlin 2008; Laura Engelstein:

Slavophile Empire. Imperial Russia‘s Illiberal Path, New York 2009.