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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

lismus erwies sich meist noch recht dehnbar, weil sozialis-

tische Theorien im Kessel der Gesellschaft zu emotionalen

Losungen und Parolen eingekocht wurden. Gleichwohl

veränderten die Arbeiter allmählich ihr Protestverhalten.

Waren lange Zeit spontane, meist wenig koordinierte

Gewaltausbrüche in Form von Krawallen, Pogromen,

Plünderungen und Maschinenstürmerei Dauermerkmale

der Arbeiterunruhen gewesen, griffen die Arbeiter zu

Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend auf moderne

Widerstandspraktiken wie Streiks, Arbeitsniederlegungen

und Boykott zurück. Aus den Arbeiterversammlungen,

den Demonstrationszügen und den Generalstreikaktionen

verschwanden die zuvor eifrig geschwenkten Zarenbilder;

die rote Fahne begann zu dominieren. Zugleich gelang

es, den zuvor rein ökonomischen Kampf der Fabrikbeleg-

schaften um bessere Arbeitsverhältnisse in eine politische

Rebellion gegen das zarische Regime zu überführen. Die

russischen Fabrikarbeiter machten darum bald mit der

europaweit höchsten Streik- und Protestbereitschaft auf

sich aufmerksam.

Auch wenn die soziale Metamorphose vom Arbeiter-

bauern zum klassenbewussten Proletarier bis 1914 bei

weitem noch nicht abgeschlossen war und zahlreiche

Spuren dörflicher Kultur weiterhin das Leben in Stadt

und Fabrik prägten, so spiegelte die wachsende Nervo-

sität und Brutalität der Machthaber doch die Tatsache,

dass sich die Industriearbeiterschaft politisiert hatte

und zu einem Herd der Unruhe und des Aufbegehrens

geworden war. Von Staat und Gesellschaft ausgeschlos-

sen, blieben die Arbeiter in ihrer sozialen Randlage

ein Fremdkörper, der sich nicht in die überkommene

Ordnung des Zarenreichs integrieren ließ und deshalb

eine besondere politische Schlag- und Sprengkraft ent-

wickelte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeichnete

sich immer deutlicher ab, dass bei der Zuspitzung der

revolutionären Situation zukünftig der nun besser orga-

nisierten Fabrikarbeiterschaft eine entscheidende Rolle

zufallen würde.

87

87 Bonwetsch (wie Anm. 77), S. 79–94; Victoria V. Bonnell: Roots of Rebel-

lion. Workers’ Politics and Organisations in St. Petersburg and Moscow,

1900–1914, Berkeley 1983; Charters Wynn: Workers, Strikes and Pogroms.

The Donbass-Dnepr-Bend in Late Imperial Russia, 1870–1905, Princeton

1992; Deborah L. Pearl: Creating a Culture of Revolution. Workers and the

Revolutionary Movement in Late Imperial Russia, Bloomington 2015; Ali-

ce K. Pate: Workers and Unity. A Study of Social Democracy, St. Petersburg

Metalworkers, and the Labor Movement in Late Imperial Russia, 1906-14,

Bloomington 2015.

Modernisierung als Problem und die Interpretation

der Revolution

Seit den „Großen Reformen“ waren im Zarenreich nicht

nur Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch die poli-

tische Landschaft in Bewegung geraten. Die sich immer

mehr zuspitzenden Strukturkrisen in der Stadt und auf

demLand hatten eine explosive Gemengelage sozialer und

politischer Konflikte entstehen lassen, die sich bislang

nur in lokalen Protest- und Gewaltaktionen äußerten.

Meist im Untergrund hatten sich mit (im europäischen

Vergleich) großer Verspätung und schweren Geburtswe-

hen politische Parteien gegründet, die zunächst weitge-

hend noch in sich geschlossene Gesinnungsgemeinschaf-

ten darstellten. Deren Repräsentanten erhoben zwar den

Anspruch, die Interessen gesellschaftlicher Gruppen zu

vertreten und den hohen Ausbeutungsdruck endlich

reduzieren zu wollen. Es fehlte ihnen in der Bevölkerung

aber weiterhin an Rückhalt und Akzeptanz, auch wenn

ihre Programme und Forderungen verstärkt auf die Nöte

und Wünsche der Menschen reagierten und damit zur

Politisierung vor allem der städtischen Bildungsschich-

ten und Arbeitergruppen beitrugen. Diese allgemeine

Schwäche des russischen Parteiwesens sollte für die wei-

tere politische Entwicklung eine schwere Hypothek dar-

stellen.

88

Das in seiner Machtfülle unbeschränkte Zarenregime

hatte sich so manchen Ausweg aus seiner selbst geschaf-

fenen Modernisierungskrise versperrt, weil seine obersten

Vertreter auf die sich bietenden Möglichkeiten der Par-

tizipation loyaler Elitenkreise und der staatlichen Mode-

ration sozialer Konflikte verzichteten. Die Autokratie

dachte nicht daran, die Folgen von Verstädterung und

Industrialisierung sozialstaatlich aufzufangen und sich

mit einer verbesserten Daseinsvorsorge ernsthaft um das

Schicksal der Bauern zu kümmern, deren Existenz unge-

achtet aller Anpassungsprozesse an die neuen Marktver-

hältnisse weiterhin prekär blieb. Für die Konfrontation

mit einer Gesellschaft, die sich allmählich ihrer Belange

und Kraft bewusst zu werden schien, erwies sich der

Zarenstaat als schlecht vorbereitet. Statt die Herausfor-

derungen des seit Ende des 19. Jahrhunderts auch im

Russischen Imperium beginnenden Aufbruchs in das

Industriezeitalter vorausschauend und umsichtig anzuge-

hen, erging sich die Autokratie in einer Politik der Gegen-

sätze und brach damit immer mehr Brücken sowohl

zur Gesellschaft als auch in die Zukunft hinter sich ab.

88 Geyer (wie Anm. 31), S. 43.