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Toni Pfülf (1877–1933)

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

„Heute hat es eher den Anschein, als sei das deutsche Volk eine seichte,

willenlose Herde von Mitläufern, denen das Mark aus dem Innersten gesogen

und die nun ihres Kerns beraubt, bereit sind, sich in den Untergang hetzen zu

lassen. Es scheint so – aber es ist nicht so; vielmehr hat man in langsamer,

trügerischer, systematischer Vergewaltigung jeden einzelnen in ein geistiges

Gefängnis gesteckt, und erst als er darin gefesselt lag, wurde er sich des

Verhängnisses bewußt. Wenige nur erkannten das drohende Verderben, und

der Lohn für ihr heroisches Mahnen war der Tod.“ 

1

So heißt es im ersten

Flugblatt der Weißen Rose vom 27. Juni 1942. Ob Hans Scholl und Alexander

Schmorell bei dieser Formulierung auch Toni Pfülf im Sinn hatten? Jedenfalls

passt der letzte Satz auf die weitsichtige, mutige Frau, Lehrerin und Reichstags-

Abgeordnete, die ihre Stimme gegen die Nationalsozialisten erhob und 1933 in

Konsequenz ihres Widerstands und aus Verzweiflung über ihre Parteigenossen

freiwillig aus dem Leben schied.

„Das ist ja ein Mann“

Die Großmutter hatte dem kleinen Emil viel von Toni

Pfülf erzählt – von jener wortgewandten, couragierten

Frau, die im Wahlkampf zur Reichstagswahl 1912 in

München rote Flugblätter verteilte. Der Achtjährige durfte

den Großvater zu einer Wahlkampfversammlung in die

Gaststätte Birk in der Baaderstraße begleiten; weil Kin-

dern der Zutritt verboten war, hockte er unter dem Tisch

und verfolgte von dort das Geschehen. „Ein Teilnehmer

meinte, man müsse die Frauen, die nicht wahlberechtigt

waren, ansprechen. Sie sollen am Wahltag ihre Männer

anhalten die Liste der Sozialdemokraten zu wählen, weil

nur die Sozialdemokraten für die Gleichberechtigung und

das Frauenwahlrecht eintraten“, erinnert sich Emil. Der

Großvater erklärte ihm, wer da so gesprochen hatte: Das

war Toni Pfülf. „Ich sagte, das ist ja ein Mann, der hat

ja eine Hose und eine Joppe an sowie auf dem Kopf ein

Lukikappel.“ Toni Pfülf habe sich „aus Sicherheitsgrün-

den“ als Mann verkleidet.

So schildert es der 80-jährige Emil Holzapfel in seinen

Lebenserinnerungen,

2

und von hier aus hat die Szene Ein-

gang in viele Darstellungen zu Toni Pfülf gefunden. Ob es

1

S. http://www.gdw-berlin.de/fileadmin/bilder/publ/begleitmaterialien/Fak similes_PDFs_deutsch/FS_15.1_DE_2.Aufl-RZ-web.pdf [Stand: 26.06.2017].

2 Oskar Krahmer, Gerdi Müller (Hg.): Der rote Emil. Ein bayerischer Sozialist

erzählt, München 1983, S. 24 f.

sich wirklich so zugetragen hat und ob die zeitliche Ein-

ordnung stimmt, bleibt, wie auch manch anderes in der

Biographie dieser engagierten Frau, eine offene Frage. Mit

Erlass des Reichsvereinsgesetzes von 1908 konnten Frauen

offiziell Mitglied einer Partei werden. Nach Antritt einer

Lehrerinnen-Stelle in München-Milbertshofen trat die

30-Jährige in jenem Jahr der Ortsgruppe bei und wurde

Mitglied im Ortsvorstand.

3

Zur Sozialdemokratie soll sie

jedoch bereits 1902 gelangt sein, „angesichts des Kinder­

elends, das sie als Junglehrerin in den zum Teil proletari-

schen Familien ihrer Schüler erlebte.“ 

4

Herkunft

Ihre Mutter Justine geborene Stroehlein entstammte einer

Aschaffenburger Juristenfamilie, Vater Emil Pfülf, geboren

in Speyer, war Oberst und im lothringischen Metz statio-

niert. Hier kommt Antonie am 14. Dezember 1877 zur

Welt. Die Eltern rufen sie „Toni“. Sie und ihre Schwester

Emma genießen eine standesgemäße Erziehung mit Gou-

3 (Michael Schröder:) Toni Pfülf 1877–1933. Bayerisches Seminar für Politik e.V.

1984, S.3.

4 Antje Dertinger: „Pfülf, Toni (Antonie)“ in: Neue Deutsche Biographie

20 (2001), S. 364 [Online-Version]: https://www.deutsche-biographie. de/gnd118740903.html#ndbcontent [Stand 01.05.2017]. Die folgenden

Angaben zum familiären Hintergrund nach Antje Dertinger: Dazwischen

liegt nur der Tod – Leben und Sterben der Sozialistin Antonie Pfülf, Berlin/

Bonn 1984, S. 17 f.