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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

Die daraus resultierenden Verluste an staatlicher Steue-

rungs- und Ordnungskraft blieb vielen Zeitgenossen nicht

verborgen. Die revolutionären Strömungen sahen eine

Zeit anbrechen, in der ihre Wünsche schon bald Wirk-

lichkeit werden könnten; die Vertreter der alten Ordnung

sowie die Verfechter eines moderaten Wandels deuteten

die beunruhigenden Zeichen der Zeit als Vorahnung stür-

mischer Jahre, in denen die zarische Welt im Strudel einer

alles mitreißenden Umwälzung unterzugehen drohe.

89

Den einen Höllensturz erwartenden russischen Zeit-

geist brachten damals die symbolistischen Schriftsteller

Andrej Belyj und Alexander Blok besonders eindrucksvoll

zum Ausdruck. Während der ersten Dekade des 20. Jahr-

hunderts bescheinigten sie ihrem Heimatland einen orien-

tierungslosen Tanz auf dem Vulkan und sahen ein riesiges

verzehrendes Feuer am Horizont heraufziehen. In apo-

kalyptischer Vorschau beschrieb Blok in seinem Gedicht

89 Die Gleichzeitigkeit von Aufbruchs- und Untergangsstimmung angesichts

der heraufziehenden Epochenwende schildert anschaulich Ingold (wie

Anm. 40).

Milan

den stolzen Raubvogel nicht mehr als majestätischen

Zarenadler, sondern nur mehr als Aasvogel, der über dem

sich seinem Schicksal stumpf ergebenden Volk gierige

Kreise zieht.

90

Angesichts der Vielzahl sich verschärfender Gegensätze

und desintegrativer Prozesse konnte die labile Situation in

eine definitive Katastrophe umschlagen. Schließlich war

es dann die blamable Niederlage im Russisch-Japanischen

Krieg 1904/05, die wie ein Brandbeschleuniger wirkte

und den revolutionären Flächenbrand auslöste, den viele

schon vorher prophezeit hatten.

91

Der französische Publizist und Historiker Alexis de Toc-

queville hatte schon 1856 in seinem wichtigen Werk „Der

alte Staat und die Revolution“ festgestellt, die Geschichte

lehre, „dass der gefährlichste Augenblick für eine schlechte

Regierung gewöhnlich derjenige ist, in dem sie sich zu

90 Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Ge-

genwart, München 2000, S. 464–472.

91 Im zweiten Beitrag der dreiteiligen Artikelserie wird es im nächsten Heft

ausführlich um die revolutionären Geschehnisse von 1905 und 1917 gehen.

Nach der demütigenden Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg 1904/05 fanden im Zarenreich zahlreiche Judenpogrome statt, in deren Folge es zu Plünderungen,

Morden sowie der verstärkten Auswanderung vieler osteuropäischer Juden vor allem nach Nordamerika kam.

Abbildung: sz-photo/Scherl