![Show Menu](styles/mobile-menu.png)
![Page Background](./../common/page-substrates/page0046.png)
46
Ein Interview mit Prof. Dr. Christoph K. Neumann
Einsichten und Perspektiven 3 | 16
Feindes eine ganze Weile zum Freund geworden. Die Waf-
fenlieferungen an den IS, die Versorgung von Kämpfern
in türkischen Krankenhäusern und so fort gehören dazu.
Das Verhältnis zwischen der türkischen Seite und dem
IS ist nicht unbedingt stabil und man muss auch davon
ausgehen, dass die beiden Seiten jeweils nicht vollstän-
dig geschlossen sind. Was ein Sondereinsatzkommando-
Befehlshaber im syrischen Grenzgebiet macht, muss nicht
unbedingt immer mit einer Regierung koordiniert sein.
Einige der großen IS-Anschläge haben sich sozusagen
gegen Feinde der türkischen Regierung gewandt: gegen
die Friedensaktivisten in Ankara, die mit der Regierung
nichts zu tun hatten und umgekommen sind
6
, ebenso wie
möglicherweise jetzt der letzte in Gaziantep, aber auch der
Anschlag in Ankara, der wahrscheinlich ein Wendepunkt
war. Es waren nun nicht gerade Regierungsfreunde, die
dort umgekommen sind, aber es war ein Anschlag, der
das Land tatsächlich destabilisiert und dem ganzen Land
gesagt hat: Ihr seid nicht mehr sicher. Es war einst eine
der großen Leistungen der AKP-Regierung, dass die Leute
sich verhältnismäßig sicher gefühlt haben. Die Türkei hat
erhebliche Routine darin, im Westen des Landes völlig zu
vergessen und zu ignorieren – auch gefühlsmäßig zu igno-
rieren – was im Südosten passiert. Man fühlt sich wie in
einem sicheren Land, obwohl große Teile des Landes alles
andere als sicher sind. Nach Ankara ging das nicht mehr.
Erdoğan sprach anlässlich des Attentats von Gaziantep öf-
fentlich von einer angeblichen Verbindung des IS mit der
Gülen-Bewegung. Auch die PKK wird oft im gleichen Atem-
zug in den Topf der Staatsfeinde geworfen. Gibt es irgend-
welche Anhaltspunkte für entsprechende Verbindungen?
Das ist schwer zu beurteilen. Inzwischen redet die türkische
Regierung auch von
FETÖ/PYD
7
und tut so, als ob die syri-
schen Kurden ein Teil der Organisation Fethullah Gülens
seien. Das ist sehr unwahrscheinlich, dass das so ist, aber es
kann passieren. Ideologisch haben die kurdischen Gruppen,
um die es hier geht, mit dem IS oder auch mit Gülen nicht
sehr viel zu tun. Aber es schließt sich ja nicht aus, dass man
operational gegen den gemeinsamen Feind, das türkische
6 Am 10. Oktober 2015 kam es in der Nähe des Hauptbahnhofs in Ankara
kurz vor dem Beginn einer von der kurdischen Partei HDP organisierten Frie-
densdemonstration zu zwei schweren Explosionen, bei denen nach Regie-
rungsangaben rund 100 Menschen ums Leben kamen und hunderte verletzt
wurden. Es war der bisher schwerste Anschlag in der türkischen Geschichte.
7 PYD ist das Kürzel der syrisch-kurdischen
Partiya Yekitīya Demokrat,
der
„Partei der Demokratischen Union“. Die Partei steht der verbotenen türki-
schen Arbeiterpartei PKK, die für zahlreiche Terroranschläge verantwort-
lich ist, ideologisch nahe.
Militär, zusammenarbeitet. Was Erdoğan, immer wenn er
über den IS spricht, versucht, ist zu implizieren, dass Ter-
ror sozusagen ideologieunabhängig sei. Das macht er nicht,
wenn es um kurdischen nationalistischen Terrorismus
oder um Fethullah geht. Dann nennt er eine ideologische
Grundlage. Dass er die, wenn es um den IS geht, nie nennt,
ist natürlich eine ideologische Botschaft. Es gibt genügend
Statements von ihm, dass man den Islam nicht mit Terror
in Verbindung bringen könne. Das ist genauso sinnvoll,
wie Statements, die man in Deutschland hören kann, dass
der Islam sowieso eine gewaltnahe Religion sei. Beides ist
wirklich Unsinn, beides ist ein ideologischer Kampf, der da
ausgefochten wird – ummal einen etwas altmodischen Aus-
druck zu verwenden. Eine systematische Zusammenarbeit
zwischen IS und Kurden gegen den türkischen Staat kann
man jedenfalls nicht leicht erkennen.
Erdoğan hat die Zeit genutzt, um seine Macht auszubauen:
Fast 100.000 Menschen sollen bisher festgenommen, sus-
pendiert oder entlassen worden sein. Dutzende Zeitungen,
Radiostationen und Fernsehsender wurden geschlossen.
Dasselbe gilt für Schulen, Universitäten und Gewerkschaf-
ten. Zuletzt hieß es sogar, Akademiker dürften das Land
nicht verlassen.
Akademiker, die das Land zu dienstlichen Zwecken ver-
lassen wollen, brauchen eine besondere Genehmigung des
Rektors und nicht mehr eine der Fakultät. Es gibt unklare
Regelungen, was den Privaturlaub betrifft. Das Ganze wird
de facto von Uni zu Uni sehr unterschiedlich gehandhabt.
Es ist durchaus vorgekommen, dass ich Leuten bestätigen
musste, dass wir wissenschaftlich kooperieren, damit sie das
ihrem Rektor vorlegen können. Was ich auch beobachten
kann, ist ein Brain-Drain. Von dem bekomme ich sicherlich
nur ein kleines geisteswissenschaftliches Rinnsal direkt mit,
aber ich erhalte eine erstaunliche Anzahl von Anfragen, ob es
nicht eine Möglichkeit gebe, hier zu arbeiten – von Leuten,
die ich nicht besonders gut kenne und die auch nur eine
sehr ungefähre Vorstellung davon haben, was ich mache. Es
geht durchaus nicht immer, dass man da etwas tun kann,
aber es kommt vor. Der Ausreisebann hat sich zwar mittler-
weile gelockert, aber ansonsten kann von einer Entspannung
keine Rede sein. Es gibt tausende von Akademikern, die sus-
pendiert sind, geschlossene Universitäten, in der letzten Zeit
auch erneut ein Durchgreifen gegen Akademiker, die im
Februar diesen Friedensaufruf
8
unterzeichnet haben.
8 Mehr als tausend türkische und sechshundert im Ausland wirkende Aka-
demiker unterzeichneten im Januar 2016 eine Petition, die das Vorgehen
der AKP-Regierung in den Kurdengebieten scharf kritisierte.