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Ein Interview mit Prof. Dr. Christoph K. Neumann
Einsichten und Perspektiven 3 | 16
schichten Erfolg hatte. In letzter Konsequenz halte ich sie
für nicht eigentlich demokratisch. Das heißt nicht, dass
es dort keine Demokraten gäbe. Aber dass sie versucht,
die Gesellschaft im Sinne einer bestimmter Ideologie zu
unterwandern, dass sie versucht, in einer lockeren Art und
Weise ihre Leute überall an die Schaltstellen zu bringen,
ist damit nicht ausgeschlossen. Genau das hat sie versucht,
genau das versucht sie. Aber: Unterwanderung ist etwas
anderes als die Organisation eines Militärputsches. 2013
nach Gezi
3
habe ich gesagt, dass das Beste, das man für
die türkische Demokratie hoffen kann, eine Spaltung des
konservativen Spektrums wäre – in die AKP auf der einen
Seite und die Gülen-Bewegung auf der anderen Seite. Bei
Gezi ist ja schon sehr klar geworden, dass die AKP sich
gegen die Bewegung wendet. Die Bewegung hat es noch
nicht einmal fertiggebracht, einen Versuch zu unterneh-
men, eine Partei zu gründen. Selbst in einer Zeit, in der sie
gesellschaftlich noch immer völlig respektabel, finanziell
einflussreich und mächtig war, hat es diesen Versuch nicht
gegeben. Sie haben versucht, sich in ihrer diffusen Orga-
nisationsform einfach wegzuducken.
Wäre es denn klug gewesen, eine Partei zu gründen? Dann
wären sie ja viel sichtbarer und Erdoğans Gegner viel klarer
zu erkennen gewesen.
Das ist einerseits richtig. Andererseits war das der Zeit-
punkt, zu dem sie tatsächlich eine Chance hatten, weil sie
eben in einer guten Ausgangsposition waren. Die Gülen-
Bewegung ist aber einen anderen Weg gegangen: Zum
Beispiel über die Enthüllungen vom 17. Dezember – der
Skandal um die Ministersöhne und das Erdoğan-Telefonat
mit seinem Sohn und seiner Tochter
4
–, die von der Regie-
rung als Fälschung bezeichnet wurden. Ich habe mehrere
Beiträge gelesen, die glaubwürdig dargestellt haben, dass
diese abgehörten Telefonate Erdoğans tatsächlich nicht
fabriziert sind. Von da an ging es mit der Bewegung bergab.
So eine große Organisation wie einen Militärputsch oder
gar die Reorganisation des Staates danach traue ich ihr
nicht zu – wer wäre denn bitte am 16. Juli Ministerpräsi-
3 Die Proteste in der Türkei im Jahr 2013 begannen mit Demonstrationen
gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Istanbuler Gezi-
Parks beim Taksim-Platz. Die türkische Polizei reagierte brutal. Der Park
wurde zum Symbol des Widerstands gegen Polizeigewalt und die regie-
rende AKP.
4 Im Dezember 2013 beschuldigte die türkische Staatsanwaltschaft hoch-
rangige AKP-Politiker und deren Verwandte der Korruption. Später tauch-
ten dann Aufzeichnungen von angeblichen Telefongesprächen Erdoğans
auf. In einem hat er seinen Sohn aufgefordert, mehrere Millionen Dollar
vor den Korruptionsermittlern in Sicherheit zu bringen.
dent geworden, wenn der Putsch funktioniert hätte? Das
fragt niemand.
Erdoğan und Gülen waren bekanntermaßen lange Zeit poli-
tische Weggefährten. In den deutschen Medien wird oft
über ein persönliches Zerwürfnis der beiden Männer berich-
tet, das zur Spaltung der Konservativen geführt habe – ist
es wirklich so einfach?
Ich denke, es gibt zwei Gründe. Es gibt das Machtmono-
pol des Staates, das gehört zu modernen Gesellschaften
dazu – ob sie nun Demokratien sind oder nicht. Und eine
Bewegung, die so vorgeht wie die Gülen’sche, bedroht das
mit ihrer Unterwanderung. Das ist bis zu einem gewissen
Grade Teil von normalen Netzwerktätigkeiten, aber es gibt
auch so etwas wie einen Grad von Unterwanderung, bei
dem es nicht mehr ordentlich funktioniert. Das ist mögli-
cherweise hier der Fall gewesen. Das zweite ist, dass es um
unterschiedliche Richtungen innerhalb des religiös-kon-
servativen Spektrums ging: Es ist deutlich, dass die neo
liberale Politik Erdoğans Gülen und seiner Bewegung nicht
gefallen hat. Es gibt ganz unterschiedliche Vorstellungen
über die Außenwirtschaftspolitik. Im Kern ist die AKP eine
neoliberale Partei. Kleine Fußnote: Was war das Gesetz,
das gleich nach dem Putsch durchgebracht wurde? Man
könnte denken, sie hätten genug anderes zu tun gehabt: Es
war der Zwang zu einer privaten Altersversorgung für alle
Türken. Völlig unter dem Radar der Aufmerksamkeit der
politischen Öffentlichkeit. Ein neoliberaler Staat ist auch
ein Staat, der weniger zu verteilen hat. Klientelismus funk-
tioniert nicht mehr auf so großer Breite, wie er früher in der
Türkei funktioniert hat. Das heißt, dass die zu verteilende
„Beute“ nicht mehr ganz so groß ist. Und in diesem Punkt
hat eine Gruppe die andere rausgebissen. Es gibt aber auch
unterschiedliche Ideen in anderen Bereichen, zum Beispiel
wie man mit den Kurden umgeht.
Gutes Stichwort: Über die Lage in den türkischen Kurden-
gebieten wird derzeit relativ wenig berichtet – hat sich die
Situation dort etwa entspannt?
In der deutschen Medienlandschaft ist die Türkei meiner
Meinung nach unglaublich präsent. Ich glaube, wenn man
sich die Titelseiten der Zeitungen im Jahr 2016 ansähe
und durchzählte, dann wäre sicherlich Merkel noch vor
Erdoğan – aber ich weiß nicht, ob Obama vor Erdoğan
wäre. Es ist riesige Aufmerksamkeit da. Die Qualität und
Menge der tatsächlichen Nachrichten, innerhalb und auch
außerhalb der Türkei, ist aber verhältnismäßig spärlich. Es
scheint so zu sein, dass es diese entsetzlichen Bombarde-
ments nordmesopotamischer, kurdisch bewohnter Städte