Table of Contents Table of Contents
Previous Page  44 / 80 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 44 / 80 Next Page
Page Background

44

Ein Interview mit Prof. Dr. Christoph K. Neumann

Einsichten und Perspektiven 3 | 16

schichten Erfolg hatte. In letzter Konsequenz halte ich sie

für nicht eigentlich demokratisch. Das heißt nicht, dass

es dort keine Demokraten gäbe. Aber dass sie versucht,

die Gesellschaft im Sinne einer bestimmter Ideologie zu

unterwandern, dass sie versucht, in einer lockeren Art und

Weise ihre Leute überall an die Schaltstellen zu bringen,

ist damit nicht ausgeschlossen. Genau das hat sie versucht,

genau das versucht sie. Aber: Unterwanderung ist etwas

anderes als die Organisation eines Militärputsches. 2013

nach Gezi

3

habe ich gesagt, dass das Beste, das man für

die türkische Demokratie hoffen kann, eine Spaltung des

konservativen Spektrums wäre – in die AKP auf der einen

Seite und die Gülen-Bewegung auf der anderen Seite. Bei

Gezi ist ja schon sehr klar geworden, dass die AKP sich

gegen die Bewegung wendet. Die Bewegung hat es noch

nicht einmal fertiggebracht, einen Versuch zu unterneh-

men, eine Partei zu gründen. Selbst in einer Zeit, in der sie

gesellschaftlich noch immer völlig respektabel, finanziell

einflussreich und mächtig war, hat es diesen Versuch nicht

gegeben. Sie haben versucht, sich in ihrer diffusen Orga-

nisationsform einfach wegzuducken.

Wäre es denn klug gewesen, eine Partei zu gründen? Dann

wären sie ja viel sichtbarer und Erdoğans Gegner viel klarer

zu erkennen gewesen.

Das ist einerseits richtig. Andererseits war das der Zeit-

punkt, zu dem sie tatsächlich eine Chance hatten, weil sie

eben in einer guten Ausgangsposition waren. Die Gülen-

Bewegung ist aber einen anderen Weg gegangen: Zum

Beispiel über die Enthüllungen vom 17. Dezember – der

Skandal um die Ministersöhne und das Erdoğan-Telefonat

mit seinem Sohn und seiner Tochter

4

–, die von der Regie-

rung als Fälschung bezeichnet wurden. Ich habe mehrere

Beiträge gelesen, die glaubwürdig dargestellt haben, dass

diese abgehörten Telefonate Erdoğans tatsächlich nicht

fabriziert sind. Von da an ging es mit der Bewegung bergab.

So eine große Organisation wie einen Militärputsch oder

gar die Reorganisation des Staates danach traue ich ihr

nicht zu – wer wäre denn bitte am 16. Juli Ministerpräsi-

3 Die Proteste in der Türkei im Jahr 2013 begannen mit Demonstrationen

gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Istanbuler Gezi-

Parks beim Taksim-Platz. Die türkische Polizei reagierte brutal. Der Park

wurde zum Symbol des Widerstands gegen Polizeigewalt und die regie-

rende AKP.

4 Im Dezember 2013 beschuldigte die türkische Staatsanwaltschaft hoch-

rangige AKP-Politiker und deren Verwandte der Korruption. Später tauch-

ten dann Aufzeichnungen von angeblichen Telefongesprächen Erdoğans

auf. In einem hat er seinen Sohn aufgefordert, mehrere Millionen Dollar

vor den Korruptionsermittlern in Sicherheit zu bringen.

dent geworden, wenn der Putsch funktioniert hätte? Das

fragt niemand.

Erdoğan und Gülen waren bekanntermaßen lange Zeit poli-

tische Weggefährten. In den deutschen Medien wird oft

über ein persönliches Zerwürfnis der beiden Männer berich-

tet, das zur Spaltung der Konservativen geführt habe – ist

es wirklich so einfach?

Ich denke, es gibt zwei Gründe. Es gibt das Machtmono-

pol des Staates, das gehört zu modernen Gesellschaften

dazu – ob sie nun Demokratien sind oder nicht. Und eine

Bewegung, die so vorgeht wie die Gülen’sche, bedroht das

mit ihrer Unterwanderung. Das ist bis zu einem gewissen

Grade Teil von normalen Netzwerktätigkeiten, aber es gibt

auch so etwas wie einen Grad von Unterwanderung, bei

dem es nicht mehr ordentlich funktioniert. Das ist mögli-

cherweise hier der Fall gewesen. Das zweite ist, dass es um

unterschiedliche Richtungen innerhalb des religiös-kon-

servativen Spektrums ging: Es ist deutlich, dass die neo­

liberale Politik Erdoğans Gülen und seiner Bewegung nicht

gefallen hat. Es gibt ganz unterschiedliche Vorstellungen

über die Außenwirtschaftspolitik. Im Kern ist die AKP eine

neoliberale Partei. Kleine Fußnote: Was war das Gesetz,

das gleich nach dem Putsch durchgebracht wurde? Man

könnte denken, sie hätten genug anderes zu tun gehabt: Es

war der Zwang zu einer privaten Altersversorgung für alle

Türken. Völlig unter dem Radar der Aufmerksamkeit der

politischen Öffentlichkeit. Ein neoliberaler Staat ist auch

ein Staat, der weniger zu verteilen hat. Klientelismus funk-

tioniert nicht mehr auf so großer Breite, wie er früher in der

Türkei funktioniert hat. Das heißt, dass die zu verteilende

„Beute“ nicht mehr ganz so groß ist. Und in diesem Punkt

hat eine Gruppe die andere rausgebissen. Es gibt aber auch

unterschiedliche Ideen in anderen Bereichen, zum Beispiel

wie man mit den Kurden umgeht.

Gutes Stichwort: Über die Lage in den türkischen Kurden-

gebieten wird derzeit relativ wenig berichtet – hat sich die

Situation dort etwa entspannt?

In der deutschen Medienlandschaft ist die Türkei meiner

Meinung nach unglaublich präsent. Ich glaube, wenn man

sich die Titelseiten der Zeitungen im Jahr 2016 ansähe

und durchzählte, dann wäre sicherlich Merkel noch vor

Erdoğan – aber ich weiß nicht, ob Obama vor Erdoğan

wäre. Es ist riesige Aufmerksamkeit da. Die Qualität und

Menge der tatsächlichen Nachrichten, innerhalb und auch

außerhalb der Türkei, ist aber verhältnismäßig spärlich. Es

scheint so zu sein, dass es diese entsetzlichen Bombarde-

ments nordmesopotamischer, kurdisch bewohnter Städte