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Rezeption der Weißen Rose in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR

Einsichten und Perspektiven 3 | 16

Auch wenn die Weiße Rose und vor allem die Geschwister

Scholl in den 1950er Jahren in der offiziellen ostdeutschen

Gedächtniskultur zum deutschen Widerstand im Natio-

nalsozialismus nicht mehr die zentrale Stellung einnahmen

wie in den Jahren zuvor, so ist aber doch davon auszuge-

hen, dass aufgrund der historischen Nähe und der frühen

Etablierung in der deutschen Erinnerungslandschaft die

Münchner Widerstandsgruppe für die Jugend in der DDR

prägend blieb. Klaus Dobrisch, seit 1958 Mitarbeiter am

Institut für Deutsche Geschichte der Deutschen Akademie

der Wissenschaften zu Berlin und seit 1972 am Zentral-

institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften

der DDR, veröffentlichte 1968 „Eine Dokumentation

über den antifaschistischen Kampf Münchner Studenten

1942/43“. Diese Textsammlung war „anläßlich des 25. Jah-

restages der letzten Aktion der Münchner Studenten und

der Ermordung der Geschwister Scholl erschienen, wurde

von den Ministerien für Kultur und Volksbildung und vom

Präsidium der Urania [

17

] in einem Preisschreiben zur För-

derung der populär-wissenschaftlichen Literatur 1968/69

mit einer Lobenden Anerkennung gewürdigt“. Unter der

Rubrik „Lebendiges Erbe“ belegte der Autor in immer wie-

der aktualisierten Neuauflagen bis 1983 eine aktive Erinne-

rungskultur für die Weiße Rose in der DDR:

„Lebendiges Erbe

Das Vermächtnis der Geschwister Scholl lebt in der Deut-

schen Demokratischen Republik und bei progressiven

Kräften in der Bundesrepublik Deutschland. In der Deut-

schen Demokratischen Republik gehört es zu den Ideen

der antifaschistischen Bewegung, die eine der Grundla-

gen ihrer Politik sind. Staat und Bevölkerung ehren und

achten die standhaften Kämpfer gegen Faschismus und

Krieg, Menschen, die in der Zeit der faschistischen Dik-

tatur ihrem Gewissen folgten und aus humanistischem

Geist gegen die Nazityrannei angingen. Denn das Volk in

diesem deutschen Staat hat eine menschliche Gesellschaft

aufgebaut und strebt nach ihrer Vervollkommnung.

Hier wird die Jugend auch im Sinne der Geschwister

Scholl erzogen. Die nach ihnen benannten Kindergär-

ten, Schulen, Universitätseinrichtungen, Jugendbrigaden,

Fabriken, landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaf-

ten und Straßen sind Symbol hierfür. Schülerforschungs-

gemeinschaften und Gruppen junger Pioniere spüren

17 Die Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse, 1954–

1990, seit 1966 auch URANIA genannt, hatte die verständliche Verbrei-

tung wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Ziel und nutzte neben Publika-

tionen auch das DDR-Fernsehen.

immer wieder den Weg und den Absichten Sophie und

Hans Scholls nach. In der Freizeit und in Zirkeln sam-

meln sie alle erreichbaren Unterlagen und sprechen ange-

regt über ihre Vorbilder.

“ 

18

Deutsch-deutsche Erinnerungskonkurrenz

Bereits am 4. November 1945 hatte an der Ludwig-Maxi-

milians-Universität in München (LMU München) eine

erste Gedenkveranstaltung in Erinnerung an die Weiße

Rose stattgefunden, in den kommenden Jahren wurde hier

der 22. Februar, ebenso wie in Ostdeutschland, zum offi-

ziellen Gedenktag. Während noch in den späten 1940er

Jahren in der SBZ und dann in der frühen DDR Gedenk-

veranstaltungen an die Weiße Rose staatsgelenkt an ver-

schiedenen Orten durchgeführt wurden, konzentrierte

sich die Erinnerungsarbeit in der jungen Bundesrepublik

auf und um die Münchner Universität. Dabei entwickelte

sich im zunehmenden Ost-West-Konflikt auch eine Erin-

nerungskonkurrenz.

Die Teilnahme einer Delegation Jenaer Studenten an

der Gedenkfeier in München 1959 hatte bereits zu Dis-

kussionen zwischen den Studierenden aus Ost- und West-

deutschland geführt. Im folgenden Jahr kam es mit der

Jenaer Studentenabordnung bei der Trauerfeier erneut zum

Konflikt, weshalb die Hochschulgruppenleitung der FDJ

eine „Erklärung abzugeben“ beschloss. Darin begründete

sie zunächst die Teilnahme an der Münchner Gedenkveran-

staltung damit, „daß gerade heute das Vermächtnis des anti-

faschistischen Widerstandskampfes unteilbar in die Hände

aller aufrechten Menschen in beiden Teilen Deutschlands

gelegt ist“. Empört war man über den Umgang mit der

Jenaer Abordnung, die „im Einverständnis mit dem Rek-

tor und dem Allgemeinen-Studenten-Auschuß (ASTA) der

Universität München“ angereist war:

„In den Nachmittagsstunden des 22. Februar 1960

schändete eine siebenköpfige Gruppe reaktionärer Stu-

denten, von denen sechs dem Ring Christlich-Demokra-

tischer Studenten (RCDS) und einer der faschistischen

deutschen Reichspartei (DRP) angehörten, die Gedenk-

stätte im Lichthof der Universität, indem sie die Schleife

unseres Kranzes mit dem Text ‚Sophie und Hans Scholl,

den Kämpfern gegen Faschismus und Krieg‘ abschnitten

und anschließend den Kranz entfernten.“ 

19

18 Klaus Drobisch: Wir schweigen nicht. Die Geschwister Scholl und ihre

Freunde, 3. überarbeitete und ergänzte Auflage, Berlin 1977, S. 63.

19 Anonymus: Jenaer Studenten – Sachwalter des Vermächtnisses der Ge-

schwister Scholl, in: Sozialistische Universität, S. 1 u. 4. Die folgenden Zita-

te stammen ebenfalls aus diesem Zeitungsbericht.