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Rezeption der Weißen Rose in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR

Einsichten und Perspektiven 3 | 16

Achim Beyer erinnert sich an diese „unbeabsichtigte Moti-

vation“:

Unbeabsichtigte Motivation 

29

„In der OberschuleWerdau wurde insbesondere vom Schul-

leiter Heß und anderen Lehrern jegliche politisch ‚nicht

linientreue‘ Meinungsäußerung mit der Androhung emp-

findlicher Schulstrafen unterbunden – dies konnte bis zur

Relegierung gehen. Gleichzeitig motivierte uns der Schullei-

ter ungewollt zur politischen Opposition durch seine stän-

dige Verklärung des kommunistischen Widerstandes gegen

die NS-Diktatur. Widerstand gegen eine Diktatur – so

seine Botschaft – sei notwendig und ehrenvoll. Nur verstan-

den der Schulleiter und seine SED-Genossen in der Lehrer-

schaft nicht, dass viele von uns zu vergleichen begannen

und viele Ähnlichkeiten zwischen der NS-Diktatur und der

politischen Entwicklung in der DDR erkannten. In einem

vertraulichen Bericht der SED-Landesleitung Sachsen […]

heißt es, der Schulleiter Heß habe ‚so berichtet, daß die

Schüler daraus den Schluß ziehen konnten, daß eine solche

Arbeit auch heute noch eine mutige Tat ist‘.

Zur sogenannten antifaschistischen Erziehung gehörte

es, uns mit der Geschichte der Geschwister Scholl aus

München und ihren Flugblättern vertraut zu machen.

[…] Bei der Lektüre ihrer Flugblätter aus dem Jahre 1943

wurde uns die Ähnlichkeit zwischen dem NS-Regime

und dem Stalinismus von 1950 besonders offenkundig:

ein Austausch der Begriffe NSDAP gegen SED, ‚Hitlerju-

gend‘ (HJ) gegen FDJ, Gestapo gegen Stasi drängte sich

geradezu auf. Damit erschien der politische Widerstand

gegen die NS-Diktatur für uns in einem völlig anderen

Licht: Es ging nicht mehr nur um eine überwundene Ver-

gangenheit – es ging auch um die gegenwärtige politische

Entwicklung. Die Geschwister Scholl wurden für viele

Jugendliche zum Vorbild – und dies nicht nur in Werdau,

sondern an vielen anderen Orten der DDR.“

Die Folgen für die Jugendlichen waren fatal: Hans-Joa-

chim Näther wurde mit dreien seiner Mitstreiter zum

Tode verurteilt und am 12. Dezember 1950 in Moskau

hingerichtet. Zusammen mit 18 Mitangeklagten wurde

Achim Beyer 1951 zu insgesamt 130 Jahren Zuchthaus-

strafe verurteilt und erst am 4. Oktober 1956 zu seinem

24. Geburtstag aus schwersten Haftbedingungen ent-

lassen. In Zusammenhang mit diesen und vielen ande-

29 Achim Beyer: Urteil: 130 Jahre Zuchthaus. Jugendwiderstand in der DDR und

der Prozess gegen die „Werdauer Oberschüler“ 1951, Leipzig 2008, S. 22ff.

ren Unrechtsurteilen klingt der zitierte Rütli-Schwur –

„Eher den Tod als in der Knechtschaft leben!“ – im zuvor

genannten Artikel von Egon Rentzsch geradezu zynisch.

Im Folgenden werden zwei weitere Beispiele für die Wahr-

nehmung der „Weißen Rose“ im Jugendwiderstand der

SBZ und frühen DDR vorgestellt.

U

niversität Leipzig 

30

Unmittelbar nach Kriegsende zeichnete sich bei ersten Stu-

dentenversammlungen an der Universität Leipzig eine klare

Lagerbildung ab. Den Universitätsgruppen von KPD und

SPD stand ein bürgerliches Bündnis aus CDU und LDP

(Liberal-Demokratische Partei Deutschlands) gegenüber.

Diese Spaltung der Leipziger Studentenschaft setzte sich in

den kommenden Jahren fort und vertiefte sich sogar zum

Nachteil des linken Lagers, dann von SED und FDJ ange-

führt. Bei denWahlen zum Studentenrat mit 21 Sitzen am 6.

Februar 1947 brachten CDU und LDP jeweils sechs Vertreter

ein, während die SEDmit acht Abgeordneten unterlegen war

(ein Mitglied war parteilos). Die folgenden Wahlen am 12.

Dezember des Jahres fielen noch deutlicher aus: Im nun drei-

ßigköpfigen Studentenrat erhielt die LDP elf, die CDU neun

und die SED acht Sitze (zwei Mitglieder waren parteilos).

Hintergrund der Lagerbildung an der Leipziger Univer-

sität war vor allem die Frage nach den Zulassungsbedingun-

gen für Studierende. Während sich die KPD gegenüber der

„Bauern- und Arbeiterklasse“ beim „antifaschistisch-demo-

kratischen Neuaufbau“ verpflichtet fühlte und eine Privile-

gierung von „Bauern- und Arbeiterstudenten“ vorsah, plä-

dierte das bürgerliche Lager, bei Anerkennung einer gewissen

Förderung bisher vernachlässigter Bevölkerungsschichten,

für eine gleichberechtigte Behandlung der Studierenden.

Bereits am 1. Dezember 1947 hatte Wolfgang Nato-

nek, 

31

der als Vertreter der LDP dem Studentenrat vor-

stand, auf einem ersten Parteitag der LDP in Bad Schandau

pointiert formuliert: „Es gab einmal eine Zeit, in der der

verhindert war zu studieren, der eine nichtarische Groß-

mutter hatte. Wir wollen nicht eine Zeit, in der es dem ver-

hindert wird zu studieren, der nicht über eine proletarische

Großmutter verfügt.“ 

32

30 Mein ausdrücklicher Dank gilt Mike Schmeitzner, der mich auf die Exis-

tenz der Unterlagen im BStU hingewiesen hat. Ausführliche Darstellung

der Hintergründe an der Leipziger Universität finden sich in Günther Hey-

demann: Die Leipziger Studentenschaft 1945–1961, in: Ulrich von Hehl

u.a. (Hg.): Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Band 3, Das

zwanzigste Jahrhundert 1909–2009, Leipzig 2010, S. 443–504.

31 Siehe Klaus-Dieter Müller/Wolfgang Natonek, in: Fricke (wie Anm. 27),

S. 181–186.

32 Zit. nach Heydemann (wie Anm. 29), S. 478.