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Rezeption der Weißen Rose in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR

Einsichten und Perspektiven 3 | 16

„Die Zeit liegt noch nicht weit hinter uns, da in Deutsch-

land mit gleichen Terrormethoden verfahren wurde. Wir

haben aus den Jahren 1933 bis 1945 gelernt und sich [sic!,

sind] nicht gewillt, uns dereinst wieder fragen zu lassen:

Was habt ihr denn gegen die Unterdrückung, für die Frei-

heit getan?

Kommilitonen!

Es gilt nicht, unser Studium – es gilt, unsere Freiheit und

die Freiheit der Millionen Menschen unserer Zone zu ver-

teidigen! […]

Alle Kommilitonen aber, die aus egoistischen Gründen,

aus Verblendung, aus Unwissenheit oder ‚Idealismus‘ der

SED beigetreten sind, rufen wir zu: Denkt nach über die

Versprechungen, die man Euch macht, denkt nach über

die hinter uns liegende Zeit der Nazi-Diktatur! Vergleicht

die Terrormethoden von einst und jetzt! Laßt Euch nicht

täuschen! Verschließt nicht Eure Augen!

Wir rufen die Universitäten der Ostzone, wir rufen Berlin,

wir rufen alle Menschen unserer Zone, die die Freiheit lieben!

Die erste Widerstandsgruppe

der Universität Leipzig.“

Auch wenn hier nicht die Weiße Rose als unmittelbarer

Bezugspunkt genannt ist, so klingt in den Formulierun-

gen der Geist der Münchner Widerstandsgruppe mit,

der diesen Aufruf zum Protest begleitet. Ausdrückliche

Erwähnung findet die Weiße Rose schließlich in einem

kürzeren Flugblatt aus derselben Zeit, das auf ganz asso-

ziative Weise Schlagworte einsetzte, die allen Lesern vor

dem Hintergrund des Nationalsozialismus klar lesbare

Chiffren gewesen sein müssen:

„Studenten!

Denkt an die Geschwister Scholl!

Demokratie heißt: Verantwortung vor dem Volk!

Schweigen Schuld“

Ein weiterer Bezug zur Weißen Rose findet sich in einem

anonymen Schreiben an Horst Grimmer (1899–1975),

das bereits am 5. November 1948 verfasst wurde. Grimmer

war bis 1933 Mitglied im sozialdemokratisch dominierten

Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und seit 1945 Mitglied

der SPD, dann 1946 Mitglied der SED. 1946 hatte er die

Professur für Pädagogik, Didaktik und Schulkunde an der

Universität Leipzig übernommen. In dem Anschreiben

wurde versucht, Grimmer für eine Stellungnahme zu einer

„illegalen SPD“ zu gewinnen. Abschließend hieß es:

„Wir hoffen auf die innere Stärke Ihrer sozialistischen

Anschauung und vertrauen auf Ihre Ehre als Professor

einer deutschen Universität. Bitte entschließen Sie sich

und schweigen Sie, im Gedanken an die Geschwister

Scholl, gegen Jedermann.“

Ebenfalls rein assoziativ, geradezu nebenbei, wurde hier

die Erinnerung an die Weiße Rose geweckt. Und wie dem

heutigen Leser die Worte von Kurt Huber aus seiner Ver-

teidigungsrede vor dem Volksgerichtshof – „Als deutscher

Staatsbürger, als deutscher Hochschullehrer und als poli-

tischer Mensch erachte ich es als Recht nicht nur, sondern

als sittliche Pflicht, …“ – in den Sinn kommen, so mag

diese kurze Bemerkung auch beim damaligen Adressa-

ten Erinnerungen geweckt haben. Ob das im Schreiben

erwünschte Telefonat stattgefunden hat, ist aufgrund der

jetzigen Quellenlage nicht nachvollziehbar, der Verbleib

des Schreibens in den Staatssicherheitsunterlagen (damals

noch K5) lässt anderes vermuten.

Die Umstände der Herstellung und der Verteilung

dieser Schreiben sowie die Hintergründe ihrer Entste-

hung oder gar die Autoren sind heutzutage nur schwer

zu ermitteln. Bedeutsam an sich ist ihre Existenz als Beleg

der Bereitschaft zum Widerstand in der SBZ und frühen

DDR. Des Weiteren sind hier die Verweise auf die Weiße

Rose beachtenswert, die im Gegensatz zur ideologischen

Verwertung im ostdeutschen Sozialismus – mit ausführ-

lichen Darstellungen, Analogien und Umdeutungen –

allein assoziativ wirken sollten. Ein Beleg dafür, dass der

Widerstand der Weißen Rose weithin bekannt war, und

Appelle zum Handeln und für die Freiheit nur knapper

Erwähnungen bedurfte.

Wolfgang Natonek wurde in einem Unrechtsverfahren

von einem sowjetischen Gerichtstribunal zu 25 Jahren

Haft verurteilt, die er im Speziallager Bautzen und in der

Haftanstalt Torgau verbrachte. 1956 wurde Natonek nach

mehreren Gnadengesuchen vorzeitig freigelassen und floh

mit seiner Frau, Christa Göhring, nach Westdeutschland.

Flugblatt vom 30.11.1948

Quelle: BStU