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WER MÖCHTE SICH
nicht in eine Zeitmaschine setzen und in
die leuchtende Kunststadt München um 1900 reisen oder
Münchner Kirchen besuchen, bevor sie imZweitenWeltkrieg
zerbombt wurden? Nicht nur Japaner würden nach einem
Besuch von Schloss Neuschwanstein vermutlich gerne auch
andere, je nach Ansicht »g’spinnerte« oder visionäre Baupro-
jekte von König Ludwig II. kennen lernen. Umso mehr, wenn
sie nie gebaut wurden. Andere würden sich gerne vor dem
Skiurlaub vorstellen können, wo genau das Hotel liegt, das
sie buchen. All dies und noch mehr ist jetzt möglich.
Das Projekt »Virtuelles Bayern« wurde vor über zehn Jah-
ren vom Autor ins Leben gerufen. An der Umsetzung dieser
ambitionierten Idee waren über Jahre neben dem DLR-Ins-
titut für Robotik und Mechatronik in Oberpfaffenhofen vor
allem zwei weitere Partner beteiligt: die junge Firma 3D Rea-
lityMaps, die sich auf die Satelliten- und Luft-Bildauswer-
tung und 3D-Modellierung von Städten und Landschaften
spezialisiert hat und der Münchner Virtual-Reality-Spezialist
Jürgen Dudowits (vormals Fa. METAMATIX), der inzwischen
mit dem Autor das Startup Fa. »Time in the Box« gegründet
hat (»Die virtuelle Zeitmaschine«).
KERNZIEL DES PROJEKTS
war/ist die fotorealistische 3D-Model-
lierung von touristisch und kulturhistorisch interessanten
Landschaften sowie Baudenkmälern in Bayern mit Techno-
logien der Robotik und 3D-Computergrafik. Das »virtuelle
Bayern« hat daher zwei zentrale Standbeine bzw. Projekt-
konzepte, die künftig eng miteinander verschmelzen sol-
len: den »virtuellen« Tourismus und das (digitale) kulturelle
Erbe.
Das neuere Element eines Zeittunnels soll die historische
Einordnung von Bauten, aber auch Technologie-Entwicklun-
gen in 3D erleichtern. Als sehr bedeutsam für die genannten
Kernthemen erwiesen sich bedeutende Fortschritte in der
3D-Bildverarbeitung, insbesondere die Entwicklung eines
hocheffizienten, pixelweise arbeitenden Stereoalgorithmus
SGM (Semiglobal Matching) am DLR-Robotik-Institut, der
die klassische, Details »verschmierende« Korrelationstechnik
hinter sich lässt. Heute gilt der SGM-Algorithmus als Stan-
dard in der modernen »Photogrammetrie«.
Virtueller Tourismus
Den ersten Anstoß, aber auch Test der SGM-Anwendung zur
3D-Modellierung von Landschaften und Bauten lieferten die
aufregenden Daten der Stereo-Zeilenkamera HRSC (High
Resolution Stereo Camera) des DLR, die seit 2002 denMars
umkreist und (Zeilen-)Bilddaten liefert, so dass der Mars
heute zum großen Teil in 10-20 m Auflösung dreidimensio-
nal modelliert ist.
ZUNÄCHST SINDWIR
mit einemDuplikat dieser Marskamera
über das Voralpenland geflogen und haben 3D-Landschafts-
modelle in 20-30 cm Auflösung generiert, später dann mit
moderneren Flächenkameras.
Genau genommen entstehenmit den nur senkrecht nach unten
blickenden Kameras zunächst nur 2,5-D-Geländemodelle,
bei denen Fassaden und Bäume wie mit Schleiern verhängt
sind. Ähnliches gilt für die Landschaftsmodellierung aus den
Laserbefliegungen der Vermessungsämter mit nachfolgender
Texturierung durch die Kamerabilder. Allerdings wurden vom
Technologieführer 3D RealityMaps, der seit Jahren eng mit
demDLR-Institut kooperiert, inzwischen erste algorithmische
Ansätze entwickelt, die bei hoher Überdeckung benachbar-
ter Bilder eine automatische Fassadentexturierung erlauben.
UM GLEICH »ECHTE«
3D-Landschaftsmodelle zu generieren,
bietet es sich an, Kamera-Arrays, die auch schräg in alle Rich-
tungen blicken, zu nutzen oder die in der DLR-Robotik der-
zeit entwickelte Schwenkspiegeltechnik. (Innen-)Stadtmo-
delle in 5 cm Auflösung sollten künftig möglich sein. Was
dann »nahtlos« anschließen muss, ist die 3D-Modellierung
berühmter Baudenkmäler von außen in 2-3 cm Auflösung,
die dann beim »virtuellen Flug« von der Landschaft ins
Gebäude in eine 1-2mm-Auflösung übergeht. So werden große
Sprünge in der Detaillierung vermieden.
Mit den oben genannten Befliegungstechniken (Laser mit
Kamera oder nur Kameras) hat 3DRealityMaps einen Großteil
der Alpenregion in 20 cm Auflösung modelliert und interak-
tiv im Internet »befliegbar« gemacht. Bekannte Urlaubsregi-
onen wie Dolomiti Superski, Stubaier Gletscherbahnen, aber
auch ganz Tirol nutzen die 3D-Landschaftsmodelle, um sich
ihre Wanderwege und Skipisten, aber auch die Lage der Ho-
tels realitätsnah darzustellen und virtuell befliegbar zu ma-
chen. Noch ist das für breite Anwendung hinderliche Laden
einer client Software erforderlich, aber nachdemdie Browser-
Hersteller sich jetzt auf denWebGL-Standard für 3D im Inter-
net geeinigt haben, wird es sicher möglich, sein, diese client Soft-
ware im Internetbrowser ohne zusätzliches plugin lauffähig
zu machen. Allerdings geht es hier in 3D um bis zu 900-fach
höher aufgelöste Landschaften als bei Google Earth oder Micro-
soft Bing Maps. ImMobilbereich konnte 3D RealityMaps in
jüngster Zeit eine preisgekrönte App (3DOutdoor Guides) ohne
das Laden von Zusatzprogrammen entwickeln, die z. B. für
die dreidimensionale Orientierung imGebirge Maßstäbe setzt.
Es wird sicher nicht mehr lang dauern, bis Smartphones und
Tablets autostereoskopische Displays anbieten, auf denenman
dann den räumlichen Eindruck wie mit einer Stereobrille hat.
Digitales kulturelles Erbe
Historisch bedeutsame Baudenkmäler sollten u. E. imAußen-
bereich in 1-3 cm und innen in 1-2 mm Auflösung auch des-
wegen in 3D modelliert werden, um sie digital zu archivie-
ren und bei Zerstörung ggf. wieder aufbauen zu können. Der
Meteor, der 2002 kurz hinter Neuschwanstein in mehreren
Trümmern amBoden einschlug, hat uns diesbezüglich zusätz-
lich motiviert. Schon früh zeigte es sich aber, dass ein ähnlich
großes Interesse daran besteht, Bauten und Technologievor-
haben nach Plänen und alten Fotos virtuell entstehen zu las-
sen, die nie realisiert wurden oder die es heute nicht mehr
aviso 1 | 2015
DIGITALE WELTEN
COLLOQUIUM
Fotos: Professor Dr. Gerd Hirzinger