|13 |
aviso 2 | 2016
FREMDE, IN DER FREMDE
COLLOQUIUM
Auf den Rändern alter Karten aller Länder finden sich, eingetragen in die meist graue
oder meerblaue Schraffur, die Worte: hic sunt dracones, frei übersetzt in »hier lauern
Drachen«. Mit dem Begriff der Drachen am Rand des bis dato Erkundeten tauchen
die Bilder des Unheimlichen auf. Darstellungen verschiedener Ungeheuer zu Lande
und zu Wasser warnen vor der Fremde, die da lauert voller Fremder. Genauso gut
könnte wohl da stehen: hic sunt homines et mores alieni, fremde Menschen, fremde
Sitten ab hier! Der Mensch des Menschen Drache!
Dass das Fremde und sein Ort, also die Fremde, abhängig sind vom Standpunkt
des Betrachters, versteht sich von selbst. So ist jeder zu jeder Zeit ein Fremder für
den anderen, je nachdem, wo das ihm Bekannte endet und der andere mit seinen
Unergründlichkeiten beginnt. Fremdheit im Eigenen ist ebenfalls möglich und wie
die Fremdheit des anderen eine Sache der Phänomenologie. Jemand oder etwas ist
uns so lange fremd, bis wir unseren Blickwinkel der Skepsis aufgedehnt haben zum
etwas weiteren Einfallswinkel der Neugierde. Fragen an das Fremde, die Fremde, den
Fremden können helfen, den Winkel Grad für Grad zu öffnen.
Fragen solcher Art könnten sein:
n
wie nehmen Sie Ihren Kaffee?
n
haben Sie ein Haustier?
n
Ihre Mutter, welchen Duft legte sie auf, wenn etwas Wichtiges zu erledigen war?
n
haben Sie Geschwister?
n
Künstler in Ihrem Land, sind sie frei?
n
Frauen in ihrem Land, können sie eigenes Geld verdienen und es für sich und ihre
Wünsche ausgeben?
n
gilt ein männlicher Nachkomme so viel wie ein weiblicher?
n
was gelten Ihnen Gäste?
n
wer ernährt die Witwen, die Rentner?
n
wer trägt Narben und warum wurden Menschen Wunden zugefügt?
n
hat Ihr Gott Humor?
Fast garantiert sich nach der Beantwortung solcher und ähnlicher Fragen eine wort
wörtliche Ent-Fremdung. Man wird sich bekannt.
Das ist ein langsamer Prozess, nur in Filmen manchmal rasant abgewickelt.
Sie sind auch in dieser Zelle eingesperrt?
Offensichtlich.
Warum?
Eben darum!
Ok. Ich bin Tom.
Ich bin Mark.
Wir sind nun verbunden, zwei gegen das System.
So in etwa.
Fremd zu sein ist eine topographische wie mentale Ortsbeschreibung, eine innere wie
äußere Wahrnehmung: Hier, an diesem Ort, bin ich fremd, kenne niemanden, ken
ne ich mich nicht aus, bin mit allen Sinnen um Orientierung bemüht (wenn ich nicht
den »Drachen« anheimfallen möchte).
1997 musste ich mich selbst zum ersten Mal rassisch selbst bestimmen. Bei der
Anmeldung für einen einjährigen Schulaufenthalt in den USA kreuzte ich nach kur
zer Überlegung »kaukasisch« an. Weder hatte ich den Kaukasus bis dahin besucht
noch Kaukasisches in meinen Zügen vermutet, dennoch hatte die Rassenforschung
just diesen Begriff für »Typen wie mich« bereit. Es fand sich die Kaukasierin Gom
ringer in den letzten zehn Jahren immer wieder in fremder Umgebung. So zum Bei
spiel, wenn sie für’s Goethe-Institut oder für Pro Helvetia um die Welt geschickt
wurde – sich selbst ein bisschen fremd als Kaukasierin qua nomen.