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aviso 2 | 2016

FREMDE, IN DER FREMDE

COLLOQUIUM

DE

in mir

entschieden, einen Text mit dem Arbeitstitel »Der Pegide in

mir« beizusteuern, der sich mit den eigenen Vorurteilen be­

schäftigt und mit Situationen, in denen sie hervorkriechen:

Neben wen setze ich mich in der U-Bahn und warum? Was

geht mir durch den Kopf, wenn ich vollverschleierte Frauen

auf der Straße sehe? Und so weiter.

Mich interessiert, ob ich der einzige bin, der da Irritierendes

bei sich entdeckt.

Darum frage ich Euch: Bin ich der einzige? Und wenn nein:

Könnt Ihr mir Situationen beschreiben, die Ihr erlebt habt?

Ich würde sie gern (ohne eure richtigen Namen zu nennen)

im Text verarbeiten.«

Es meldet sich: kein einziger. Ich will zu Gunsten meiner

Freunde annehmen, dass ihnen meine pegiden Gedanken fun­

damental fremd sind. Dass ihnen schlicht nichts einfällt, weil

da nichts ist, nicht mal ein pegides Gedankenzucken. Dass es

sich um Heilige handelt. Bis auf einen, Martin. Er schreibt:

»Von mir kenne ich (spontan):

n

unwillkürlicher Kontrollgriff an meine Brieftasche, nach-

dem mir die vielen Roma auf dem Bahnsteig aufgefallen

sind

n

anerkennend-billigender Gedanke »Na, das ist ja toll«

(oder auch »So ist’s recht«), wenn ich zwei Frauen imKopf-

tuch in der U-Bahn die ZEIT lesen sehe

n

aus meinemKreuzberg/Neuköllner Umfeld das Argument:

Die mangelnde Integration sei zwar bedauerlich, aber keine

Experimente an den eigenen Kindern: die schicken wir mal

lieber in die Schule im anderen Stadtbezirk, mit weniger

Kindern mit Migrationshintergrund…«

Ich frage noch ein paar Freunde und Bekannte. Besonders

spannende Antworten kommen von Leuten mit Migrations­

geschichte. ZumBeispiel von einer rumänischstämmigen Frau,

die nicht in Obersendling wohnen möchte, weil dort so viele

Ausländer herumlaufen. Sie sagt: »Ich darf das sagen, ich bin

selber Ausländerin.«

Oskar erzählt von der Bitte eines neuen Arbeitskollegen, sich

während der Gebetszeiten diskret mit seinem kleinen Tep­

pich in eine Ecke des Büros zurückziehen zu dürfen. Und er

erzählt von der Gedankenkaskade, die das losgetreten habe:

Haben wir es mit einem Schläfer zu tun? Eher nicht, der ist

eigentlich ganz nett. Aber sind nicht alle Schläfer ganz nett

und unscheinbar? Vielleicht ist er ja jetzt noch kein Schläfer,

aber doch noch formbar und manipulierbar? Oskar erzählt,

wie er erschrocken ist über sich und seine Gedanken. Und

wie er sich klar machte, wie verschwindend gering der Atten­

täteranteil in der Migrationsbevölkerung sei. Das freut mich

für Oskar, denn seine Freundin ist Muslima.

Ali berichtet von den Eltern seiner deutschstämmigen Frau.

Diese hatten anfangs große Schwierigkeiten mit einem Tür­

ken, einem muslimischen. Mittlerweile seien sie aber der

Ansicht, ihre kluge Tochter habe sich den einen guten aus 1000

schlechten erwählt, was unbedingt für ihn spreche. Und Ali?

Der hat keine Lust darauf, der Paradetürke zu sein. Keine Lust

darauf, als Ausnahme zu gelten, so vorbildlich integriert, wie

er ist. Keine Lust darauf, seine Landsleute zu verteidigen. Oder

zu verraten. Oder für irgendwas oder irgendwen zu stehen.

Ali nennt die Pegida-Leute immer »Pegisten«. Weil man ja

auch nicht von »Islamiden« spreche, sondern von »Islamis­

ten«. Ali sagt, in jedem Moslem stecke ein kleiner Islamist,

und in jedemDeutschen ein kleiner Pegist. Die müssten sich

eigentlich gut verstehen.

Bei Martin, Ali, Oskar und seiner Freundin fühle ich mich in

guter Gesellschaft. Könnte sein, dass pegide Bewusstseins­

anteile gleichmäßiger in der Gesellschaft verteilt sind, als

ich gedacht hätte. Die Frage wäre dann nicht: Bist du pegi­

de? Sondern: Wie pegide bist du? Und: Bist du stolz darauf?

Nachdenken über den Kein-Wunder-Reflex

Andreas Unger

ist Sozialjournalist und lebt in München.

Seine Beiträge erschienen u. a. im Tagesspiegel, in der Zeit und

im Bayerischen Fernsehen. Er erhielt u. a. den

Journalistenpreis des Weißen Ri

ngs und den n-ost-Reportage- preis. www.zeilenmacher.de

Zum Weiterlesen

Dieser Text entstand auf Initiative des Schriftstellers

Fridolin Schley und erschien in der Anthologie »Fremd«,

Hg. Fridolin Schley, 2015 im Kirchheim Verlag München.