|17 |
aviso 2 | 2016
FREMDE, IN DER FREMDE
COLLOQUIUM
DE
in mir
entschieden, einen Text mit dem Arbeitstitel »Der Pegide in
mir« beizusteuern, der sich mit den eigenen Vorurteilen be
schäftigt und mit Situationen, in denen sie hervorkriechen:
Neben wen setze ich mich in der U-Bahn und warum? Was
geht mir durch den Kopf, wenn ich vollverschleierte Frauen
auf der Straße sehe? Und so weiter.
Mich interessiert, ob ich der einzige bin, der da Irritierendes
bei sich entdeckt.
Darum frage ich Euch: Bin ich der einzige? Und wenn nein:
Könnt Ihr mir Situationen beschreiben, die Ihr erlebt habt?
Ich würde sie gern (ohne eure richtigen Namen zu nennen)
im Text verarbeiten.«
Es meldet sich: kein einziger. Ich will zu Gunsten meiner
Freunde annehmen, dass ihnen meine pegiden Gedanken fun
damental fremd sind. Dass ihnen schlicht nichts einfällt, weil
da nichts ist, nicht mal ein pegides Gedankenzucken. Dass es
sich um Heilige handelt. Bis auf einen, Martin. Er schreibt:
»Von mir kenne ich (spontan):
n
unwillkürlicher Kontrollgriff an meine Brieftasche, nach-
dem mir die vielen Roma auf dem Bahnsteig aufgefallen
sind
n
anerkennend-billigender Gedanke »Na, das ist ja toll«
(oder auch »So ist’s recht«), wenn ich zwei Frauen imKopf-
tuch in der U-Bahn die ZEIT lesen sehe
n
aus meinemKreuzberg/Neuköllner Umfeld das Argument:
Die mangelnde Integration sei zwar bedauerlich, aber keine
Experimente an den eigenen Kindern: die schicken wir mal
lieber in die Schule im anderen Stadtbezirk, mit weniger
Kindern mit Migrationshintergrund…«
Ich frage noch ein paar Freunde und Bekannte. Besonders
spannende Antworten kommen von Leuten mit Migrations
geschichte. ZumBeispiel von einer rumänischstämmigen Frau,
die nicht in Obersendling wohnen möchte, weil dort so viele
Ausländer herumlaufen. Sie sagt: »Ich darf das sagen, ich bin
selber Ausländerin.«
Oskar erzählt von der Bitte eines neuen Arbeitskollegen, sich
während der Gebetszeiten diskret mit seinem kleinen Tep
pich in eine Ecke des Büros zurückziehen zu dürfen. Und er
erzählt von der Gedankenkaskade, die das losgetreten habe:
Haben wir es mit einem Schläfer zu tun? Eher nicht, der ist
eigentlich ganz nett. Aber sind nicht alle Schläfer ganz nett
und unscheinbar? Vielleicht ist er ja jetzt noch kein Schläfer,
aber doch noch formbar und manipulierbar? Oskar erzählt,
wie er erschrocken ist über sich und seine Gedanken. Und
wie er sich klar machte, wie verschwindend gering der Atten
täteranteil in der Migrationsbevölkerung sei. Das freut mich
für Oskar, denn seine Freundin ist Muslima.
Ali berichtet von den Eltern seiner deutschstämmigen Frau.
Diese hatten anfangs große Schwierigkeiten mit einem Tür
ken, einem muslimischen. Mittlerweile seien sie aber der
Ansicht, ihre kluge Tochter habe sich den einen guten aus 1000
schlechten erwählt, was unbedingt für ihn spreche. Und Ali?
Der hat keine Lust darauf, der Paradetürke zu sein. Keine Lust
darauf, als Ausnahme zu gelten, so vorbildlich integriert, wie
er ist. Keine Lust darauf, seine Landsleute zu verteidigen. Oder
zu verraten. Oder für irgendwas oder irgendwen zu stehen.
Ali nennt die Pegida-Leute immer »Pegisten«. Weil man ja
auch nicht von »Islamiden« spreche, sondern von »Islamis
ten«. Ali sagt, in jedem Moslem stecke ein kleiner Islamist,
und in jedemDeutschen ein kleiner Pegist. Die müssten sich
eigentlich gut verstehen.
Bei Martin, Ali, Oskar und seiner Freundin fühle ich mich in
guter Gesellschaft. Könnte sein, dass pegide Bewusstseins
anteile gleichmäßiger in der Gesellschaft verteilt sind, als
ich gedacht hätte. Die Frage wäre dann nicht: Bist du pegi
de? Sondern: Wie pegide bist du? Und: Bist du stolz darauf?
Nachdenken über den Kein-Wunder-Reflex
Andreas Unger
ist Sozialjournalist und lebt in München.
Seine Beiträge erschienen u. a. im Tagesspiegel, in der Zeit und
im Bayerischen Fernsehen. Er erhielt u. a. den
Journalistenpreis des Weißen Ri
ngs und den n-ost-Reportage- preis. www.zeilenmacher.deZum Weiterlesen
Dieser Text entstand auf Initiative des Schriftstellers
Fridolin Schley und erschien in der Anthologie »Fremd«,
Hg. Fridolin Schley, 2015 im Kirchheim Verlag München.