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aviso 3 | 2016 A
NTHROPOZÄN - DAS ZEITALTER DER MENSCHEN
COLLOQUIUM
muss – so das Bundesverfassungsgericht – nach den Grund-
sätzen praktischer Vernunft ausgeschlossen sein, also für die
nächsten Jahrtausende, in denen der hochradioaktive Atom-
müll noch strahlt. Bisher ist die Suche nach einem atoma-
ren Endlager in Deutschland gescheitert: Morsleben wurde
1998 stillgelegt. Der kontaminierte Standort Asse II wurde
geschlossen und eine milliardenteure Rückholung radioak-
tiver Abfälle verfügt. Das rechtlich umstrittene Planfeststel-
lungverfahren »Schacht Konrad« ist nach 30 Jahren zwar
abgeschlossen, eine Lagerung radioaktiver Abfälle verzögert
sich jedoch weiterhin – vorläufig bis zum Jahr 2021. Wie es
danach weitergehen wird, ist ungewiss. Die Zwischen- und
Endlagerung radioaktiver Abfälle in Gorleben ist seit Jahr-
zehnten politisch umkämpft. Gerade der Fall »Gorleben«
deutet an, warum in Deutschland noch kein atomares End-
lager gefunden wurde: Grund waren und sind nicht nur tech-
nische Risiko- und Sicherheitsfragen, sondern vor allem der
Widerstand von Teilen der Bevölkerung gegen die friedliche
Nutzung der Kernenergie und ihre Abfälle. Die bürgerkriegs-
artigen Auseinandersetzungen um Brokdorf, Kalkar, Wa-
ckersdorf und Gorleben haben die politische Mentalitätsge-
schichte der Bundesrepublik tief geprägt: Sie richteten sich
nicht nur gegen Atomkraft und Atommüll, sondern auch
gegen den »Atomstaat« (Robert Jungk), der mit der Kern-
energie identifiziert wurde. Soweit sich Bürgerinnen und
Bürger mit Rechtsschutzansuchen gegen die Planung von
atomaren Endlagern an die Gerichte wandten, hatten sie
im Ergebnis letztlich keinen Erfolg. Nach der höchstrichter-
lichen Rechtsprechung haben sie hinsichtlich ihres Grund-
rechts auf Leben und Gesundheit noch nicht einmal einen
subjektiven Anspruch auf »Restrisikominimierung«. Da-
rüber hinaus wertete das Bundesverfassungsgericht in sei-
ner Entscheidung zu »Schacht Konrad« die nichtrückhol-
bare Endlagerung von hochradioaktivem Abfall gerade als
»unseren« Beitrag, kommenden Generationen keine unzu-
mutbaren atomaren Erblasten zu hinterlassen – als sei das
Strahlungsproblem durch die nicht rückholbare Endlagerung
für künftige Generationen erledigt. Darüber hinaus hat das
Oberverwaltungsgericht Niedersachsen über den prozessu-
alen Schutz von gegenwärtigen und künftigen Generationen
vor der Bedrohung durch hochradioaktiven Atommüll ent-
schieden: Die Kläger – Eigentümer und Pächter eines land-
wirtschaftlichen Familienbetriebs – seien selbst durch die
atomaren Langzeitrisiken von mehreren hunderttausend
Jahren nicht (mehr) betroffen. Darüber hinaus könnten die
Kläger die Interessen ihrer Nachkommen nicht gerichtlich
geltend machen, da sie nicht darlegen könnten, dass sich
ihre eigenen Nachkommen in tausenden von Jahren noch
am aktuellen klägerischen Wohnort aufhalten würden. So
lässt sich nur festhalten: Auf diese Weise kann das Recht zur
Lösung einer der zentralen Zukunftsfragen des Anthropo-
zäns nichts Nennenswertes beizutragen.
DIES WILL DAS
»Gesetz zur Suche und Auswahl eines Stand-
ortes für ein Endlager fürWärme entwickelnde radioaktive Ab-
fälle« (Standortauswahlgesetz – StandAG) vom 23. Juli 2013
ändern. Für hoch radioaktive Abfälle soll in einem wissen-
schaftsbasierten und transparenten Verfahren ein Standort
für die Endlagerung gefunden werden, »der die bestmög-
liche Sicherheit für einen Zeitraum von einer Million Jah-
ren gewährleistet« (§ 1 StandAG). Doch nicht nur in die-
ser anthropozänen Zeitdimension liegt das Besondere des
Standortauswahlgesetzes. Sein Regelungsansatz verfolgt
insbesondere ein Ziel: Nicht mehr die Politik, sondern die
Gesellschaft soll die Standortentscheidung treffen. Dies setzt
das Standortauswahlgesetz in zwei Schritten um: erstens
in einem Standortkriterienverfahren und zweitens in dem
eigentlichen Standortauswahlverfahren.
IN DEM STANDORTKRITERIENVERFAHREN
soll zunächst
die »Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe«
die geowissenschaftlichen, sicherheits- und umweltbezo-
genen sowie verfahrens- und organisationsrechtlichen Kri-
terien für die Suche nach atomaren Endlagern entwickeln.
Der Auftrag der Kommission geht aber noch weiter: Wenn
die Kommission der Auffassung ist, dass das ganze Stand-
ortauswahlgesetz selbst nichts taugt, kann sie dem Bundes-
tag Regelungsalternativen empfehlen (§ 4 StandAG). Dies
stellt eine nicht unbeachtliche Neuerung dar – der Gesetzge-
ber dankt ab: »Sagt uns, was Ihr im Standortauswahlgesetz
stehen haben wollt, und wir schreiben es Euch hinein!« Der
Standortauswahlkommission gehören – neben der/demVor-
sitzenden – Vertreterinnen und Vertreter der Wissenschaft
(8), der Umweltverbände (2), der Religionsgemeinschaften
(2), der Wirtschaft (2), der Gewerkschaften (2) sowie Mitglie-
der des Bundestages (8) und der Landesregierungen (8) an.
Die Kommission soll ihren Bericht möglichst im Konsens,
mindestens aber mit einer Zweidrittelmehrheit beschließen,
wobei jedoch nur die wissenschaftlichen, umweltpolitischen,
religiösen, wirtschaftlichen und gewerkschaftlichen, nicht
aber die politischen Vertreterinnen und Vertreter über ein
Stimmrecht verfügen (§ 3 StandAG). Nun ist es in der Staats-
und Verwaltungspraxis nichts Ungewöhnliches, dass exter-
ner Sachverstand oder gesellschaftliche Interessengruppen
bei der Besetzung pluralistischer Entscheidungsgremien
berücksichtigt werden. Der vorliegende Fall der Endlagerung
atomarer Abfälle liegt aber anders. Sicherlich ließe sich die
Kompetenzfrage stellen: Welchen Sachverstand bringen zum
Beispiel die Sozialpartner in eine Kommission für die ato-
mare Endlagerung für eine Million Jahre ein? Doch gerade
dies weist nur darauf hin, dass es dem Standortauswahlge-
setz jedenfalls nicht allein um eine wissensbasierte Fundie-
rung der atomaren Standortsuche geht. Vielmehr soll die
Verantwortung für den Atommüll vom Staat auf die Gesell-
schaft verschoben werden. Dies kommt in zwei verfahrens-
rechtlichen Aspekten zum Ausdruck: Zunächst werden in
der Kommissionsarbeit wissenschaftliche, ökologische, wirt-
schaftliche, soziale, religiöse und politische Dimensionen der
Atommüllentsorgung vermischt. Sodann werden die Kom-
missionempfehlungen »privatisiert«: Die Vertreterinnen und
Vertreter des Bundestages und der Landesregierungen sollen
zwar mitberaten, aber nicht mitentscheiden. Damit wird die
Verantwortung für die atomare »Entsorgung« von der Politik
auf die vier Säulen der Industriegesellschaft verschoben, die
© dpa/picture alliance (Fotograf: Uli Deck)