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aviso 3 | 2016

ANTHROPOZÄN - DAS ZEITALTER DER MENSCHEN

COLLOQUIUM

zu spät. Um überhaupt einen nachhaltigen Klimaeffekt zu

erzielen, hätten wir damit bereits vor Jahrzehnten beginnen

müssen.

AUS DIESEN GRÜNDEN

versucht sich die friedliche Nut-

zung der Atomkraft in den letzten Jahren immer wieder

als »alternative« Form der Energiegewinnung ins Spiel zu

bringen. Gerade in diesen Tagen wird bekannt, dass die EU-

Kommission den Ausbau der Kernenergie in Europa för-

dern will. Indessen ist die Atomkraft die anthropozänste

aller Techniken: Sie versorgt die Menschheit gerade einmal

seit gut fünfzig Jahren mit Energie. Dies ist fast genau die

Zeit, in der das Anthropozän in seine Eskalationsphase ein-

getreten ist. Doch der in diesen fünfzig Jahren nuklearer

Energieversorgung angefallene atomare Abfall wird noch

Jahrtausende strahlen. Darüber hinaus zeigt unsere globale

Erfahrung mit atomaren Katastrophen, für die Three Mile

Island, Tschernobyl und Fukushima zum Symbol geworden

sind, wie unkontrollierbar nicht nur die Kernenergie, sondern

vor allem auch ihre atomaren Abfälle sind. So ist die Reak-

torkatastrophe von Fukushima von 2011 keineswegs vorbei,

nur weil sie nicht mehr in den Medien vorkommt. Sie läuft

noch immer: Niemand kennt ihre wahren Ausmaße in Japan.

Niemand erahnt auch nur ihre globalen Folgen, die sie bei-

spielhaft imHinblick auf die atomare Verseuchung des Pazi-

fischen Ozeans zeitigt. Hier verfolgen Energiewirtschaft und

Staat ihre jeweils ganz eigenen Desinformationspolitiken.

DEUTSCHLAND IST NACH

der Reaktorkatastrophe von

Fukushima aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie

»ausgestiegen«. Dabei suggerieren die Begriffe des »Atom-

ausstiegs« und der »Energiewende«, dass das Atomzeital-

ter bereits hinter uns liegt. Das ist aber nicht der Fall. Die

Bundesrepublik ist keineswegs mit der Energiewende aus

der Atomkraft ausgestiegen. Die letzten Atommeiler wer-

den in Deutschland 2022 abgeschaltet. Dieses verzögerte

Ende der Nutzung von Kernenergie hat die Bundesregierung

strategisch gestaltet: Sie hat einerseits die Ethikkommission

»Sichere Energieversorgung« einberufen, die ihr bestätigt

hat, dass der Verzicht auf die Kernenergie nach der Reak-

torkatastrophe von Fukushima geboten sei. Zugleich ließ sie

sich von der Reaktorsicherheitskommission versichern, dass

die deutschen Atomkraftwerke »robust« wären und ein Tsu-

nami, der die Reaktorkatastrophe von Fukushima in Folge

eines Erdbebens ausgelöst hatte, in Deutschland in der Re-

gel nicht vorkäme. So ließ sich der Ausstieg Deutschlands

aus der Kernenergie als Kompromiss aus diesen beiden Ex-

pertenempfehlungen noch um ein Jahrzehnt über die Reak-

torkatastrophe von Fukushima hinaus aufschieben. Selbst

wenn 2022 die letzten Atommeiler (wirklich) abgeschaltet

werden sollten, ist dies keineswegs das Ende des Atomzeital-

ters in Deutschland. Es bleiben dann immer noch ca. 15000

Tonnen hochradioaktiver Abfall in der Bundesrepublik zu

»entsorgen«. Jedoch lässt sich die anthropozäne Aufgabe der

sicheren Aufbewahrung des Atommülls, der noch für meh­

rere hunderttausend Jahre strahlen wird, mit dem verharmlo-

senden Begriff der »Entsorgung« kaum beschreiben. Ebenso

bezeichnend für die Strategien defensiver Ignoranz, die wir

uns hinsichtlich des Atommülls leisten, ist die aktuelle Dis-

kussion um die Frage nach den Kosten für dessen Endlage-

rung: Sollen diese von der Energiewirtschaft und damit letzt-

lich von den Energieverbrauchern oder vom Staat und damit

von den Steuerzahlern getragen werden? Am Ende werden

die Bürgerinnen und Bürger für die Endlagerung bezahlen –

entweder als Stromkunden oder als Steuerzahler. Deshalb

lenkt diese hart geführte Auseinandersetzung nur vom

eigentlichen Problem ab: Wo und wie bewahren wir den

Atommüll für die nächsten Jahrtausende sicher auf?

DIESE ANTHROPOZÄNE FRAGE

lässt sich weder wis-

senschaftlich noch politisch seriös beantworten. Wir betre-

ten damit den Bereich, den Peter Sloterdijk vollkommen zu

Recht als »Metaphysik der Endlagerung« bezeichnet hat.

Verfassungsrechtlich gelten für die Endlagerung von Atom-

müll genau die gleichen Anforderungen wie für den Betrieb

von Kernkraftwerken. Die Verwirklichung jedes Restrisikos

oben

In der Schachtanlage Asse bei Wolfenbüttel wurden bis Ende der

1970er-Jahre Fässer und Betonbehälter mit strahlendem Müll abgekippt –

126.000 insgesamt. Die Sicherung der Behälter wird Experten zufolge

einige Milliarden Euro verschlingen.