|21 |
aviso 3 | 2016
ANTHROPOZÄN - DAS ZEITALTER DER MENSCHEN
COLLOQUIUM
zu spät. Um überhaupt einen nachhaltigen Klimaeffekt zu
erzielen, hätten wir damit bereits vor Jahrzehnten beginnen
müssen.
AUS DIESEN GRÜNDEN
versucht sich die friedliche Nut-
zung der Atomkraft in den letzten Jahren immer wieder
als »alternative« Form der Energiegewinnung ins Spiel zu
bringen. Gerade in diesen Tagen wird bekannt, dass die EU-
Kommission den Ausbau der Kernenergie in Europa för-
dern will. Indessen ist die Atomkraft die anthropozänste
aller Techniken: Sie versorgt die Menschheit gerade einmal
seit gut fünfzig Jahren mit Energie. Dies ist fast genau die
Zeit, in der das Anthropozän in seine Eskalationsphase ein-
getreten ist. Doch der in diesen fünfzig Jahren nuklearer
Energieversorgung angefallene atomare Abfall wird noch
Jahrtausende strahlen. Darüber hinaus zeigt unsere globale
Erfahrung mit atomaren Katastrophen, für die Three Mile
Island, Tschernobyl und Fukushima zum Symbol geworden
sind, wie unkontrollierbar nicht nur die Kernenergie, sondern
vor allem auch ihre atomaren Abfälle sind. So ist die Reak-
torkatastrophe von Fukushima von 2011 keineswegs vorbei,
nur weil sie nicht mehr in den Medien vorkommt. Sie läuft
noch immer: Niemand kennt ihre wahren Ausmaße in Japan.
Niemand erahnt auch nur ihre globalen Folgen, die sie bei-
spielhaft imHinblick auf die atomare Verseuchung des Pazi-
fischen Ozeans zeitigt. Hier verfolgen Energiewirtschaft und
Staat ihre jeweils ganz eigenen Desinformationspolitiken.
DEUTSCHLAND IST NACH
der Reaktorkatastrophe von
Fukushima aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie
»ausgestiegen«. Dabei suggerieren die Begriffe des »Atom-
ausstiegs« und der »Energiewende«, dass das Atomzeital-
ter bereits hinter uns liegt. Das ist aber nicht der Fall. Die
Bundesrepublik ist keineswegs mit der Energiewende aus
der Atomkraft ausgestiegen. Die letzten Atommeiler wer-
den in Deutschland 2022 abgeschaltet. Dieses verzögerte
Ende der Nutzung von Kernenergie hat die Bundesregierung
strategisch gestaltet: Sie hat einerseits die Ethikkommission
»Sichere Energieversorgung« einberufen, die ihr bestätigt
hat, dass der Verzicht auf die Kernenergie nach der Reak-
torkatastrophe von Fukushima geboten sei. Zugleich ließ sie
sich von der Reaktorsicherheitskommission versichern, dass
die deutschen Atomkraftwerke »robust« wären und ein Tsu-
nami, der die Reaktorkatastrophe von Fukushima in Folge
eines Erdbebens ausgelöst hatte, in Deutschland in der Re-
gel nicht vorkäme. So ließ sich der Ausstieg Deutschlands
aus der Kernenergie als Kompromiss aus diesen beiden Ex-
pertenempfehlungen noch um ein Jahrzehnt über die Reak-
torkatastrophe von Fukushima hinaus aufschieben. Selbst
wenn 2022 die letzten Atommeiler (wirklich) abgeschaltet
werden sollten, ist dies keineswegs das Ende des Atomzeital-
ters in Deutschland. Es bleiben dann immer noch ca. 15000
Tonnen hochradioaktiver Abfall in der Bundesrepublik zu
»entsorgen«. Jedoch lässt sich die anthropozäne Aufgabe der
sicheren Aufbewahrung des Atommülls, der noch für meh
rere hunderttausend Jahre strahlen wird, mit dem verharmlo-
senden Begriff der »Entsorgung« kaum beschreiben. Ebenso
bezeichnend für die Strategien defensiver Ignoranz, die wir
uns hinsichtlich des Atommülls leisten, ist die aktuelle Dis-
kussion um die Frage nach den Kosten für dessen Endlage-
rung: Sollen diese von der Energiewirtschaft und damit letzt-
lich von den Energieverbrauchern oder vom Staat und damit
von den Steuerzahlern getragen werden? Am Ende werden
die Bürgerinnen und Bürger für die Endlagerung bezahlen –
entweder als Stromkunden oder als Steuerzahler. Deshalb
lenkt diese hart geführte Auseinandersetzung nur vom
eigentlichen Problem ab: Wo und wie bewahren wir den
Atommüll für die nächsten Jahrtausende sicher auf?
DIESE ANTHROPOZÄNE FRAGE
lässt sich weder wis-
senschaftlich noch politisch seriös beantworten. Wir betre-
ten damit den Bereich, den Peter Sloterdijk vollkommen zu
Recht als »Metaphysik der Endlagerung« bezeichnet hat.
Verfassungsrechtlich gelten für die Endlagerung von Atom-
müll genau die gleichen Anforderungen wie für den Betrieb
von Kernkraftwerken. Die Verwirklichung jedes Restrisikos
oben
In der Schachtanlage Asse bei Wolfenbüttel wurden bis Ende der
1970er-Jahre Fässer und Betonbehälter mit strahlendem Müll abgekippt –
126.000 insgesamt. Die Sicherung der Behälter wird Experten zufolge
einige Milliarden Euro verschlingen.