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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15
Begegnungen, die verändern
wir in geschliffenem Deutsch und mit nicht zu erahnen-
der Herzlichkeit von den Zeitzeugen empfangen. Unsere
Gastgeber gaben uns das Gefühl, wirklich willkommen zu
sein. Keinerlei Anzeichen von Distanz oder Zurückhal-
tung. Zu unserem Erstaunen versammelten sich im Lauf
der Zeit immer mehr Bewohner um uns, allesamt Zeit-
zeugen und Überlebende des NS-Terrors, die an uns und
unserem Projekt interessiert waren.
Doch auch der Umgang unserer Schülerinnen und
Schüler mit den Gesprächspartnern machte uns in den
folgenden Begegnungen sprachlos: Mit großem Interesse
traten sie ihren Interviewpartnern entgegen, informiert
und zurückhaltend sorgten sie, dies wurde im Anschluss
von den Zeitzeugen versichert, für eine angemessene
Gesprächsatmosphäre. So ergaben sich viele eindringliche
und intensive Gespräche, die uns mit sehr unterschied-
lichen Biographien die einzelnen Phasen der Judenverfol-
gung vor Augen führten: Die Demütigungen und Ausgren-
zungen schon in der Weimarer Republik, die Ausbrüche
physischer Gewalt mit dem Höhepunkt des Reichskris-
tallnachtpogroms 1938, die man, das betonten nahezu
alle Zeitzeugen, einem „Kulturvolk“ wie den Deutschen
nicht zugetraut hätte, und die folgenden unvorstellbaren
Schrecken und Gräueltaten des Völkermords.
Der direkte persönliche Kontakt zwischen den Jugend-
lichen und den Zeitzeugen, die zur Zeit des „Dritten
Reiches“ im gleichen Alter waren, führte zu einer starken
emotionalen Verbindung: So sprachen einige Bewohner
das erste Mal seit 1945 mit Deutschen auf Deutsch über
ihre Schicksale. Nicht alle Gespräche liegen hier gedruckt
vor, manche Interviewpartner entschieden sich im Nach-
hinein auch gegen eine (namentliche) Veröffentlichung.
Die Gespräche mit ihnen sollten privat bleiben.
Geschichte wurde auf einmal konkret und sehr per-
sönlich: Wir konnten die Ungerechtigkeit, Grausamkeit,
Willkür erahnen – und gleichzeitig wurde uns klar, dass
kein Film, kein Buch einen solchen emotionalen Erkennt-
nisprozess bewirken konnte wie diese Gespräche und
Erzählungen.
Nach den Tagen im Altenheim, gemeinsamen Mittages-
sen und intensiven Gesprächen fiel uns der Abschied nicht
leicht, zu eindringlich war das, was wir hier gehört hatten.
In sehr langen Diskussionen tauschten wir uns im
Anschluss über unsere Erfahrungen aus, teilweise dauert
dieser Prozess heute noch an. Es waren Begegnungen, die
uns verändert haben. Begegnungen, die uns manchmal
auch ein wenig ratlos zurückließen, wie die folgenden
Reflexionen einer Schülerin, Franziska Schwendner, zei-
gen:
Trifft uns Schuld?
„Trifft uns Schuld? Nein. Wir sollen keine Schuldgefühle
haben, sagt unser Lehrer. Uns trifft keine Schuld mehr.
Doch wenn mir die Zeitzeugen beim Interview erzählen,
dass sie auch heute noch jede Nacht Albträume haben und
von ihren Erinnerungen eingeholt werden, da fühle ich:
Etwas lastet schwer auf mir. Ich fühle mich dafür verant-
wortlich, dass unsere Zeitzeugen wegen meiner Vorfahren
nachts nicht schlafen können. Das hört sich wahrschein-
lich verrückt an. Bin ich verantwortlich für die Taten
meiner Großeltern und Urgroßeltern? Mich trifft keine
Schuld, sagen meine Eltern und Lehrer.
Doch dann beim Mittagessen sitze ich Frau Morelen-
baum gegenüber, die jeden Tag Tabletten nehmen muss,
damit sie nicht weint. Eine Frau, die den Teufel im Men-
schen erlebt hat. Sie war in Auschwitz und hat Dinge gese-
hen, von denen sie jetzt nachts träumt. Sie hat gesehen,
wie ein Deutscher einen Säugling vor den Augen seiner
Mutter in die Luft geworfen und erschossen hat. Sie hat
die Freude in den Augen des Deutschen gesehen, als er
getroffen hat. Und jetzt sitze ich dieser Frau gegenüber
und sie erzählt mir davon, dass sie weiß, dass uns, die
junge deutsche Generation, keine Schuld mehr trifft. Sie
würde uns gerne verzeihen. Doch dann meint sie offen
und direkt, dass sie das nicht kann. Denn die Kinder in
Auschwitz waren auch vollkommen schuldlos und wur-
den trotzdem von den Deutschen umgebracht. Ich weiß
nicht mehr, was ich sagen soll. Das Essen liegt plötzlich
schwer in meinem Bauch und ich habe keinen Hunger
mehr. Ich spüre Reue und würde mich am liebsten für
all das entschuldigen, was Frau Morelenbaum widerfahren
ist. Doch mich trifft ja keine Schuld. Das haben meine
Eltern, die Lehrer und Frau Morelenbaum gesagt.“
Ein Ergebnis der Begegnungen ist die vorliegende Samm-
lung der Interviews. Leser werden aus diesen Gesprä-
chen vielleicht nur wenige neue historische Erkenntnisse
gewinnen. Und trotzdem, das spiegelt unsere Erfahrung
aus dieser Fahrt wider, sind sie es wert, gelesen zu werden.
Denn noch immer hat jedes einzelne dieser erschüttern-
den Schicksale das Recht, gehört zu werden. Und es ist
noch immer unsere Verantwortung, aufmerksam zuzuhö-
ren und daran zu erinnern.