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Die Interviews
15
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15
Inge Stern: Den Deutschen hat man so was nie
zugetraut
Inge Stern wurde 1923 in München geboren und wuchs
in Glogau auf, wo sie bis 1934 lebte. Danach zog sie mit
ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester nach Berlin, da
aufgrund des wachsenden Antisemitismus das Leben in der
Kleinstadt zu gefährlich wurde. Ihre Eltern planten deshalb
schon frühzeitig die Auswanderung nach Südafrika. Als dies
nicht mehr möglich war, flohen sie im Mai 1939 nach Israel.
1950 besuchte sie zum ersten Mal nach dem Nationalsozi-
alismus wieder ihre Geburtsstadt. In Israel heiratete sie und
bekam zwei Söhne, von denen sie einen im Jom-Kippur-Krieg
verlor. 2012 zog sie in das „Pinchas Rosen Parents’ Home“.
Heute hat Inge Stern vier Enkelkinder und 13 Urenkel.
Wir waren Freiwild
Meine Eltern stammen aus Schlesien, ich bin 1923 in
München geboren und in Glogau aufgewachsen. An
meine Kindheit habe ich schöne Erinnerungen. Ich genoss
eine preußische Erziehung, aber ich bin heute keine Deut-
sche mehr.
Die erste schreckliche Erfahrung war am 1. April 1933,
als mein Onkel, der Anwalt war, auf einem Lastwagen
durch die Stadt gefahren wurde. In den Kleinstädten
kannte jeder jeden. „Das sind die Juden und die wollen
wir loswerden.“ Das nächste schreckliche Erlebnis war
die „Reichsschwimmwoche“ im Juni 1934. Ich bin gerne
geschwommen, aber an demTag der „Reichsschwimmwo-
che“ wurde ich nach Hause geschickt: Für Judenkinder
sei kein Platz. Zwei Wochen später sollten wir einen Auf-
satz über diese Woche schreiben und ich habe in diesen
Aufsatz geschrieben, dass ich nicht teilnehmen durfte,
weil ich Jüdin bin. Meine Mutter musste deswegen zum
Direktor, der den Aufsatz zu unserer Sicherheit aus dem
Heft entfernte. Denn zu dieser Zeit waren wir Juden
Freiwild. Meine schrecklichsten Erinnerungen an damals
sind die SA-Aufmärsche. Das Leben in der Kleinstadt war
bis zu diesem Zeitpunkt schön, denn wir hatten Familie
um uns rum. Am 30. Juni 34, da war ich elf, haben die
Eltern beschlossen, sie ziehen um nach Berlin. Das war
der erste Schritt zur Auswanderung. Wir sind aus einer
Fünf-Zimmer-Wohnung in eine Zwei-Zimmer-Wohnung
in einer bescheidenen Gegend in Berlin gezogen. Meine
Eltern waren nicht reich, aber gut situiert. Ich hatte eine
Schwester, die sechs Jahre jünger ist. Wir gingen noch
zwei Jahre auf jüdische Schulen, mit englischsprachigem
Unterricht. Als es mit dem Antisemitismus schlimmer
wurde, schickten manche ihre Kinder nach England, doch
unsere Eltern wollten sich nicht von uns trennen. Bis zur
Reichskristallnacht
lebten wir relativ friedlich in Berlin; in
dieser Nacht aber sind wir in den Wald geflohen. Das hat
uns vor Schlimmerem bewahrt, denn wir waren nur unin-
teressante kleine Leute.
Wir müssen hier raus, sonst wird es gefährlich
Meine Mutter und die anderen Frauen haben früh geahnt,
welches Ausmaß der Nationalsozialismus annehmen wird.
Sie waren auch eher bereit sich umzustellen als die Män-
ner, da diese die Verantwortung trugen, die Familie zu
ernähren. Sie meinten, dass sie doch keine Fremdspra-
chen könnten, und ihre Berufe – Doktor, Anwalt – seien
sprachgebunden, und wie soll das funktionieren? Auch
wenn sie hier nicht mehr arbeiten konnten, wollten sie
bleiben, denn sie besaßen ein Haus oder etwas zur Miete
und die Familie konnte leben. Unsere Mutter hat aber
sehr gedrängt, ihr zuliebe sind wir ja dann auch ausgewan-
dert. Meine Eltern hatten eigentlich eine Einkommens-
quelle in Südafrika vorbereitet, dort war eine Tante, die
hatte ein Modegeschäft aufgemacht, sie war angehende
Anwältin und ihr Mann hatte angefangen zu studieren.
Mein Vater war der Modesachverständige, hat in Berlin
die Sachen für das Geschäft eingekauft. Aber bis sich die
Eltern entschlossen hatten, dort hinzugehen, hat Südaf-
rika zugemacht für Juden. Also war uns 1939 klar: Wir
müssen hier raus, sonst wird es sehr gefährlich
.
Ja, aber
dann gab es kein Zertifikat, um mit zwei Kindern legal
nach Israel einzuwandern, und wir wollten nicht auf diese
schiffbrüchigen Schiffe gehen, auf diese Nussschalen, wo
auch genug passiert ist. Doch schließlich verschuldete sich
mein Onkel für uns.
Inge Stern
Foto: Anja Schoeller