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Die Interviews

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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15

Kein Heimweh nach Deutschland

Wir haben Deutschland im Mai 1939 verlassen. Ich hatte

zwar genug erlebt für meine Verhältnisse, aber es war nicht

zu vergleichen mit dem, was da später passiert ist. Wir

sind von Genua bis Tel Aviv gefahren. Wir waren glück-

lich, ja, wir waren noch Kinder! Wir haben verstanden,

warum wir nach Palästina fahren, aber es war ein Erlebnis.

Eher ein Abenteuer als eine direkte Flucht.

Wir sind im Mai angekommen und mieteten eine

kleine Wohnung in Tel Aviv. Als Erstes hatten wir dort

einen Chamsin, der sich gewaschen hatte. Ein Chamsin

ist ein Wüstenwind, nicht sehr windig, aber wahnsinnig

heiß.

Dann aber kamen die Schule und die schreckliche Spra-

che. Englisch war ein Kinderspiel im Vergleich zu Hebrä-

isch. Alle, die beten konnten, die hatten es leichter, denn

die hatten sich an etwas anzulehnen. Aber hier hat man

zum Glück auch

jiddisch

gesprochen, das hat uns Deut-

schen sehr geholfen, denn man kann es verstehen, ohne es

zu sprechen. Denn Jiddisch ist Mittelhochdeutsch.

Ich kam aus einer sehr assimilierten Familie, wir haben

zu Hause den Glauben nicht gelebt, aber ich meine,

wir haben immer gewusst, dass wir Juden sind. Nach

der Ankunft hatten wir kein Heimweh, denn nach

dem

Deutschland konnte man kein Heimweh haben. Wir

waren ja noch Kinder, wir waren noch nicht so verwur-

zelt. Bei der Ankunft war ich 15 und meine Schwester

war neun Jahre alt. Aber manche Deutsche haben es nicht

ausgehalten. Unser Großvater zum Beispiel ist nach Israel

gekommen und wir alle wollten, dass er bleibt. Er hat

gesagt, hier kann er nicht bleiben, hier kennt ihn ja keiner,

wenn er auf die Straße geht, grüßt ihn dort keiner. Er ist in

Theresienstadt

umgekommen.

„Was man uns antat, ist grenzenlos.“

Ich heiratete dann später einen religiösen Mann, das war

sehr interessant und ganz neu und ich habe mich ver-

pflichtet, eine koschere Küche zu führen. An Pessach war

es immer besonders anstrengend, denn man muss so viel

koscher kochen. Inzwischen fahren wir die ganze Pessach-

woche als Familie weg in ein koscheres Hotel und dann

können sich die Hoteliers die Arbeit machen. Aber das

muss man sich leisten können. Auch am Sabbat halten wir

uns streng an die Regeln, nur ich werde mittlerweile wieder

etwas lockerer. Ich kann Ihnen noch erzählen, dass meine

Mutter nach demWeltkrieg noch in der Schweiz war. Und

dass sich ein Deutscher zu ihr auf eine Bank gesetzt hat,

an einem der Wanderwege und sie gesagt hat: „Ich mache

Sie darauf aufmerksam, ich bin Jüdin.“ Unsere Mutter hat

das immer gleich gesagt und dann hat er gesagt: „Wir sind

ja hier außerhalb der Grenze.“ Dann hat sie gesagt: „Das,

was man uns angetan hat, ist grenzenlos.“ Als ich nach

dem Krieg zum ersten Mal in Deutschland war, da hat

meine Mutter gesagt: „Du siehst dich um wie im Zoo.“

Ich sagte: „Ja, ich überlege mir bei jedem“, da war ja die

Täter-Generation noch da, „was er wohl gemacht hat.“

Ich war nicht oft in Deutschland nach dem Krieg, aber ich

wollte nach München. München ist eine herrliche Stadt

mit den breiten Straßen, die Israelis haben lauter enge

Straßen, denn wir sind ein winziges Land. Und also wirk-

lich, es ist eine herrliche Stadt. Ja, die großen Straßen und

auch die Theater und auch die kleinen Bühnen. München

ist so, wie ich mir Deutschland gewünscht hätte.

Im Gespräch

Foto: Anja Schoeller

Die Deutschen haben gemordet und gequält

Heute denke ich, Deutschland ist für mich immer noch

das Land, in dem das Grauen passiert ist. Ich weiß, das

sind jetzt schon zwei Generationen, die sich zum Teil sel-

ber fragen, was haben unsere Vorfahren gemacht. Und das

wird nicht diskutiert. Sie wollen es ja auch nicht wirklich

wissen und das muss man auch verstehen. Doch es gibt

immer einen schwelenden Antisemitismus, leider. Aber

das begründet sich meiner Ansicht nach darauf, dass die

Juden sehr hart gearbeitet haben, sehr fleißig waren und

dann sehr erfolgreich, und dann gibt’s immer Neider. Ich

habe gehört, dass es wieder Neonazis gibt. Aber ich bleibe

hier, da treffe ich sie nicht. Es mag eine Vogelstrauß-

Politik sein, aber ich kann mich nicht für alle einsetzen.

Kein Mensch hat einem Kulturvolk wie den Deutschen

zugetraut, dass es so ausufern wird. Und auch wie der Hit-

ler zur Macht kam, hat man gesagt, nun hat er das doch

erreicht und jetzt wird das mit den Pöbeleien gegen Juden