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Die Interviews

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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15

„Vati ist schon fort.“

Eines Tages im April 1933 komm ich nach Hause, ich

sehe, es sind Koffer gepackt. Ich hatte unterdessen einen

kleinen Bruder, der ein Jahr alt war und wir hatten für

ihn ein Kindermädchen. Es standen die Koffer da und

meine Mutter sagte mir furchtbar aufgeregt: „Wir fahren

nach Hamburg zu den Großeltern.“ Und ich fragte: „Wie

kommt ihr jetzt darauf, nach Hamburg zu fahren, mit-

ten im Schuljahr? Meine Freundin, die Lena, hat heute

Geburtstag. Ich kann heut nicht nach Hamburg fah-

ren.“ – „Doch, doch, doch, wir müssen fahren.“ – „Und

wo ist Vati?“ – „Vati ist schon fort.“

Ich hatte keine Ahnung, weshalb: Das war der Boykott-

tag, an dem man die Juden erstmals von staatlicher Seite

öffentlich angegriffen hat. Scheiben wurden bei jüdischen

Geschäften eingeschmissen, Käufer wurden drangsaliert

und Gerüchte wie: eine Verkäuferin habe Lepra oder eine

Wurst sei vergiftet gewesen, kolportiert.

Wir sind also nach Hamburg zu den Großeltern gefah-

ren und nie mehr nach Nürnberg zurückgekommen.

Dort ging ich auf eine jüdische Schule, wo ich auf dem

Nachhauseweg geschlagen wurde. Die haben an der Ecke

gewartet und wussten, das ist eine jüdische Schule, und

haben mich überfallen. Doch in Hamburg war der Nazis-

mus im Gegensatz zu den bayerischen Gegenden noch

nicht sehr groß entwickelt.

Man konnte nicht einfach losfahren

Wir waren zwei Jahre in Hamburg, bis mein Vater einen

Posten in Freiberg in Sachsen bekam. Dort lebten wir

eineinhalb Jahre. Ich war die einzige Jüdin in einem

christlichen Lyzeum. Als mein Vater mich in das Lyzeum

eingeschrieben hat, hat der Bürgermeister gesagt: „Herr

Jacobsohn, am Sonnabend braucht Ihre Tochter nicht

zu kommen, denn dann haben wir

Rassenkunde.

“ Da hat

man diesen Blödsinn gelehrt, dass man den Kopf gemes-

sen hat. Da hat der Bürgermeister mich davon freigehal-

ten, dass ich mir das nicht mit anhören musste, und das

fand ich fantastisch. Mir ist auch mal passiert, dass ich

beim Friseur war und der hat gesagt: „Endlich mal ein rein

arischer Hinterkopf!“

In Freiberg hat mein Vater schon die Auswanderung

vorbereiten müssen, denn man konnte nicht einfach los-

fahren. Man musste eine bestimmte Summe besitzen, um

die Einwanderung zu zahlen. Meine Mutter und mein

Bruder sind zurück nach Hamburg zu den Großeltern

gefahren, während mein Vater alles erledigt hat, und mich

hat man nach Amsterdam zu den Schwestern meiner

Mutter geschickt. Da war ich nochmal ein dreiviertel Jahr,

bis meine Eltern kamen. Ich bin zwar dort nicht in die

Schule gegangen, aber ich habe als Vorbereitung zur Ein-

wanderung nach Israel sehr viel Unterricht genommen,

unter anderem in Englisch und Hebräisch.

1937 kamen meine Eltern dann nach Amsterdam und

von dort sind wir mit dem Zug nach Italien gefahren und

mit dem Schiff bis Haifa. Denn unsere Familie war zionis-

tisch eingestellt. Zum Beispiel hätten wir auch sagen kön-

nen, wir bleiben in Holland bei den Verwandten. Doch als

wir Deutschland verließen, war unser Ziel, nach Palästina

zu gehen.

Im Interview mit den Schülern

Foto: Christian Oberlander

Von der Villa in die Wüste

In Israel war der Lebensstandard natürlich viel niedriger,

als er vorher war. Meine Mutter war an drei Angestellte in

einer Villa gewöhnt, hier hatten wir zwei Zimmer. Aber

wir mussten zufrieden sein, dass wir uns überhaupt ver-

hältnismäßig gut ernähren konnten.

Ich war und bin auch heute noch sehr handwerklich

geschickt, deshalb bin ich von dort aus in ein sehr gutes

Studio gekommen, wo ich sehr gut nähen gelernt habe,

was auch nachher mein Beruf war. Als ein Brief vom Mili-