aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 29

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aviso 1 | 2014
DER ZAHN DER ZEIT
Colloquium
Ihr jahrtausendelanges Leben in der Menschenwelt
hat sie weitgehend entkoppelt von den natürlichen
Zeitgebern und Zeitläufen. Bei den Hunden, den
mit Abstand ältesten Haustieren der Menschen
(vom Menschenfloh abgesehen), entstand sogar
aus der ursprünglich einmaligen Paarungszeit im
Jahr, wie sie die Wölfe, ihre Vorfahren, haben, eine
zweimalige, zeitlich nicht fest liegende. Immerhin
ist das ein erster Schritt in die Richtung, die die
Menschenfrau mit ihren etwa 12 fruchtbaren Perio­
den im Jahr längst eingeschlagen hat, was sehr un-
gewöhnlich ist. Den Ursprung des beimMenschen
frei laufenden Sexualzyklus ohne Bindung an eine
Jahreszeit kennen wir nicht.
Auch Würmer lieben im Mondzyklus
Am genauesten mit der Zeit gehen aber nicht die
Vögel oder die Säugetiere um, sondern manche
Insekten und bestimmte Würmer. Sie haben sich –
der Hinweis drängt sich hier geradezu auf – schon
Urzeiten lang vor den Menschenfrauen auf den
Mond und seinen Zyklus eingestellt. Streng und
präzise folgen bestimmte, anMeeresküsten mit See-
gras lebende Mücken dem »Lunarzyklus«, Monat
für Monat. Der Palolowurm der Südsee, ein Mee-
reswurm, trieb die Synchronisation seiner Fort-
pflanzung mit dem Mond aber auf die Spitze. In
der zweiten und dritten Nacht nach dem dritten
Mondviertel im November steigen diese Wür-
mer vom Meeresgrund zur Oberfläche empor. In
einer suppenartigen Masse vereinigen sie sich zur
Paarung. Myriaden von Eiern werden dabei freige-
setzt, so dass das Meer wie mit griesartiger Milch
erfüllt zu sein scheint. Die Menge ist so riesig, dass
die vereinten Kräfte aller möglichen Wurmesser
bei weitem nicht ausreichen, den Nachwuchs zu
dezimieren; auch die der Südseeinsulaner der
betreffenden Gegenden (Samoa) nicht, für die
diese Würmer eine Delikatesse sind. Ein Jahr dar-
auf wird sich ein gleichartiges Schauspiel bei Voll-
mond wiederholen; meist mit einem »Vorspiel«
genau einen Monat davor.
Lichtverschmutzung ist Zeitverwischung
Fassen wir diese Facetten und viele andere, gut
untersuchte Beispiele aus der Tierwelt zusammen,
so ergibt sich daraus ganz klar, dass so gut wie alle
Lebewesen dem Lauf der Zeit unterworfen sind.
Sie benutzen äußere Zeitgeber wie Tageslänge
und Sonnenstand, die Tageszeit und die Jahreszeit.
Ihr Leben wird davon präzise bestimmt, auch das
Leben sehr vieler Pflanzen. Wann sie blühen und
fruchten, richtet sich genauso nach äußeren Zeit-
gebern wie die Phasen ihres intensivenWachstums.
Der mit Abstand wichtigste ist das Licht. VomWet-
ter und seinen Kapriolen lassen sich Pflanzen und
Tiere in aller Regel nicht täuschen. Wohl aber vom
Menschen, wenn dieser mit künstlichem Licht die
eigentlich kurzen Tage verlängert und damit Posi-
tionen vortäuscht, die Tausende Kilometer näher
am Äquator liegen würden. Unter dem veränder-
ten Lichtregime stellen sich mit der Zeit andere
Tages- und Jahresrhythmen ein. Nicht allzu viel
deutet jedoch darauf hin, dass die darauf reagieren-
den Vögel stärker unter den verzerrten Hell-und-
Dunkel-Zyklen leiden würden als wir selbst, die wir
uns des natürlichen Tages- und Jahresrhythmus
berauben, weil wir meinen, das müsse so sein. Am
meisten getroffen werden vom Kunstlicht wahr-
scheinlich die nachtaktiven Insekten, allen voran
viele Schmetterlinge, weil sie von den Lampen
angezogen werden. Lichtverschmutzung nennt man
dies ganz zutreffend. Ein treffenderer Begriff wäre
überfällig: »Zeitverwischung«, vielleicht sollte man
es sogar Zeitverschmutzung (time pollution) nennen.
Es ist ja
sonnenklar, dass das »Keine-Zeit-Haben«
krank macht, würden uns die Tiere sagen. Da hat
es nun ein Lebewesen geschafft, sich weit mehr als
alle anderen vom Zwang der äußeren Zeit zu lösen,
und was macht es mit dieser Freiheit? Es unter-
wirft sich dem Diktat der Uhr! Da richtet sich die
Natur doch lieber nach der Sonne.
Professor Dr. Josef H. Reichholf
,
Zoologe, Evolu­
tionsbiologe und Ökologe, ist Honorarprofessor der
Technischen Universität München und war von
1974 bis 2010 Sektionsleiter Ornithologie der Zoolo-
gischen Staatssamlung München.
© Marion Krüger-Wiegand | Earth Observation Group | NOAA National Geophysical Data Center | Thomas Schreiber | Christoph Kießig
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