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aviso 2 | 2016

FREMDE, IN DER FREMDE

COLLOQUIUM

Text:

Hermann Unterstöger

In Grimms DeutschemWörterbuch wird das Verb

befremden

mit Hilfe des lateinischen

mirum videri

erklärt, das von

auffallen

bis

wundersam vorkom-

men

alles Mögliche bedeutet. In diesem Sinn könn­

te man es befremdend finden, wie unendlich weit

Goethe in seinen Interessen ausgegriffen hat. Un­

ter den »Schriften über Literatur« findet sich eine

Abhandlung über serbische Lieder, worin er nach

einemBlick auf das den Völkern eigene »allgemein

Menschliche« sagt: »Das Besonderste aber eines

jeden Volks befremdet nur, es erscheint seltsam,

oft widerwärtig, wie alles Eigentümliche, das wir

noch nicht in einen Begriff auffassen, uns noch

nicht anzueignen gelernt haben.«

Der Satz dürfte bei bestimmten Leuten förmlich

danach schreien, aus demZusammenhang gerissen

zu werden, und zwar dergestalt, dass man daraus

das Argument gewänne, schon »der alte Goethe«

habe andere Völker in ihremKern als befremdlich,

ja widerwärtig eingestuft. Das wiederumwürde die

Verehrer Goethes sehr befremden, und wenn sie,

was bei Goetheverehrern ja öfter mal vorkommt,

auf dem Schlauch stünden, könnten sie auch nicht

das entgegnen, was entgegnet werden müsste: dass

Goethe uns förmlich dazu auffordert, das pri­

ma vista Befremdliche zu begreifen und uns so

anzueignen, dass unser Befremden in Freude über

die Bereicherung umschlägt. Integration also, ent­

fremden statt befremden.

Exkurs. Da wir schon mal beim alten Goethe hal­

ten, sei auch der junge bedacht. Als ihm 1775 die

noch jüngere Lili Schönemann über den Lebens­

weg lief, war das ein Herzensereignis, das sich bei

einemwie ihm natürlich alsbald zumGedicht ballte:

be

frem

sprachliche Erkundungen