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aviso 2 | 2016

FREMDE, IN DER FREMDE

COLLOQUIUM

Herz, mein Herz, was soll das geben,

Was bedränget dich so sehr?

Welch ein fremdes neues Leben –

Ich erkenne dich nicht mehr.

Die Romanze kam zu keinem guten

Ende, doch verriet Goethe später dem

getreulich aufmerkenden und imGeiste

mitschreibenden Famulus Eckermann,

dass Lili seine erste große Liebe gewesen

sei. Im Lied nennt er, was ihm da wider­

fährt, »ein fremdes neues Leben«, und

wer von uns je an eine wie Lili Schöne­

mann geraten ist, erfolgreich oder nicht,

versteht ohne langes Sinnen, was

fremd

in dieser schönen Konstellation bedeu­

tet: großartig, wunderbar, umwerfend.

Ende des Exkurses.

Ja, hast du sie noch alle? Diese Frage

müsste jetzt allmählich kommen, und

zwar mit dem Nachsatz, ob denn nun

jedesnochsoabseitigeWortaufdieWaage

der politischen Korrektheit und, imwei­

testen Verstande, der moralischen Zu­

träglichkeit gelegt werden müsse. Das

Adjektiv

befremdlich

wird üblicherwei­

se als gehobenes Synonym für Begriffe

wie

absonderlich, eigenartig, entlegen,

kurios, merkwürdig, sonderlich

oder

ulkig

gehandelt. Sagt jemand, der letzte

Einkommenssteuerbescheid sei ihm be­

fremdlich vorgekommen, so denkt sich

sein Gesprächspartner allenfalls, dass

man das auch anders ausdrücken kön­

ne, weniger überdreht und spinös. An

eine existenzielle Fremdheit zwischen Steuerpflichtigem und Finanzamt wird er

kaum denken. Das Wurzelwort

fremd

in

befremdlich

hat kaum noch etwas von

dem Stallgeruch, den es ausströmt, wenn der Sänger die »Winterreise« mit den

von Hoffnungslosigkeit umwehtenWorten »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh

ich wieder aus« beginnt. Es ist in der alltäglichen Rede so flach und leichtgewich­

tig wie das Wörtchen

trüb

in

betrüblich

, das wir ja auch für die banalsten Feststel­

lungen verwenden: »Betrübliches Wetter heute, nicht wahr?«

Die wenigsten von uns wissen, wie Wörter entstehen, aufwachsen und sich in

der Sprache etablieren. Dafür haben wir die Wissenschaft von der Wortbildung,

der linguistischen Morphologie. Darin spielen Präfixe wie das in unserem Fall zu

besichtigende

be-

eine bedeutende Rolle. Mit diesem kleinen

be-

lässt sich Gro­

ßes anstellen, etwa ein intransitives Verb in ein transitives umwandeln:

jammern

wird zu

bejammern

. Liegt so einemKonstrukt ein Substantiv zugrunde, wird also

beispielsweise aus

Glas

das Verb

beglasen

, nennt man das eine Ornativbildung:

Ein Objekt wird mit dem durch das Basissubstantiv Bezeichneten versehen; der

Terminus leitet sich von lateinisch

ornare

gleich

schmücken, versehen mit

her. Auf

befremden

passt das natürlich nicht, weil da ja niemand mit Fremde versehen

wird. Man kann aber einen Fall vom Typ

befreien

gleich

frei machen

mitlaufen las­

sen und in sehr lockerer Assoziation sagen, dass in

befremden

etwas wie

seltsame

Gefühle erwecken

stecken könnte.

Seltsame Gefühle wohlgemerkt! Wir müssen uns hüten, dass wir vor lauter Orna­

tivbegeisterung das leicht Unheimliche in

befremden

unter den Teppich kehren.

Die Verlockung ist groß, da bei der Erwähnung von Gefühlen im Hintergrund

sofort Beethovens sechste Symphonie aufrauscht, deren erstem Satz der Meister

das Motto »Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande«

mit auf den Weg gegeben hat. Wir wollen das festhalten: Es waren heitere Gefüh­

le, nicht seltsame, und wahrscheinlich ist das auch der Grund, dass wir von dieser

Symphonie alles andere als befremdet sind.

den

Hermann Unterstöger

schreibt seit 1978 für die Süddeutsche Zeitung.

Schwerpunkte seiner Arbeit sind Reportagen für die Seite 3, zahlreiche Streif-

lichter und die Kolumne »Sprachlabor«, die sich der Sprache, vornehmlich

der Zeitungssprache, widmet. 2010 erhielt er den Ernst-Hoferichter-Preis der

Stadt München. In der Begründung hieß es: »Unterstögers Texte sind eine

Form für sich, irgendetwas Drittes zwischen Journalismus und Kunst.«