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aviso 2 | 2016

FREMDE, IN DER FREMDE

COLLOQUIUM

MIGRATION, OB ERZWUNGEN

oder freiwillig, ob voller Verzweif­

lung oder voller Hoffnung, enthielt durch alle Zeiten Phasen

hoher Irritation, großer Unsicherheit und Angst. Denn zwi­

schen dem Verlassen der vertrauten Umgebung, der Fami­

lie, der Freunde, und der sicheren Ankunft an einemOrt, an

dem man bleiben wird, liegt ein Raum großer Gefährdung.

Es geht um Abschied und Grenzüberschreitung, um den oft

schwierigen Weg durch das Unbekannte zu einem fernen

und unklaren Ziel.

Vor diesem Hintergrund lassen sich Verbindungslinien zwi­

schen ganz unterschiedlichen Formen von Flucht, Emigra­

tion oder Vertreibung ziehen, dies vor allem dann, wenn es

um die Perspektiven, die Ängste und Hoffnungen der Betrof­

fenen geht. Denn mit der Angst der Migranten und Migran­

tinnen korrespondiert die Angst der Menschen in den Ziel­

ländern – Angst vor »Überfremdung«, vor Konkurrenz auf

dem Arbeitsmarkt, vor einem Verlust von Besitz und Privi­

legien. Die »Fremden« will man nicht, man fürchtet sie und

lehnt sie deshalb ab. Diese Ablehnung ist nicht erst heute mit

Aussperrung und Ausgrenzung verbunden. Viele der großen

Zwangsmigrationen des 20. und 21. Jahrhunderts waren be­

gleitet von Grenzschließungen und Internierungen »feindli­

cher Ausländer«, von Arbeitsverboten und Diskriminierungen.

DIE BEIDEN KORRESPONDIERENDEN

Ängste, die der Ankom­

menden und die der Mitglieder der Aufnahmegesellschaft, gin­

gen und gehen eine unselige Verbindung ein: Die Ankommen­

den spüren die Ablehnung und dies steigert ihre Verzweiflung

und Not. Und den Einheimischen versperrt die Angst vielfach

den Blick auf die Qualitäten und Angebote der Ankommenden.

Vor demHintergrund der Angst lernt man sich nicht kennen,

sondern hält sich fern und lebt lieber mit Stereotypen weiter,

die es erlauben, die eigenen Vorurteile aufrecht zu erhalten.

Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland

Sieht man unter diesem Blickwinkel auf die drei Zeitschnit­

te 1938-1945-2016, so lässt sich dies leider gut belegen. Die

von den Nazis rassistisch verfolgtenMenschen, die 1938 noch

nicht aus Deutschland emigriert waren, erlebten im eigenen

Land, aber auch von außen, die Ablehnung vieler Länder der

Welt. Ohne persönliche Bürgschaften aus dem Aufnahme­

land gab es kein Visum. Und ohne Visum keine Schiffspas­

sage. Die jüdischen Kinder, in der heutigen Diktion wären

das »unbegleitete minderjährige Flüchtlinge«, die in England

im Rahmen des Kindertransports aufgenommen wurden,

erlebten den Abschied von den Eltern oft als dramatisch und

endgültig. Die zurückbleibenden Eltern schickten ihre Kin­

der ins Leben und mussten befürchten, sie nie wieder zu

sehen; die Kinder wiederum fühlten sich oft wie verstoßen.

Ohne dieses englische Angebot, 10.000 jüdische Kinder unter

17 Jahren aufzunehmen, wären aber wohl auch diese Kinder

in der Shoah ermordet worden wie ein Großteil ihrer Eltern.

Es hatten sich die Quäker und die jüdischen Gemeinden nach

den Novemberpogromen 1938 an die englische Regierung

gewandt, um diese Ausnahmeregelung von den strengen

Einreisebedingungen zu erreichen, die Gemeinden bürgten

mit 50 Pfund (heute wären das etwa 1500

) für jedes Kind.

DAS AUFNAHMELAND ENGLAND

internierte nach demEintritt

in den Krieg 1939 Emigranten, darunter auch etliche der Kin­

der, als »enemy aliens« z. B. auf der Isle of Man. Die gerade

glücklich Entronnenen waren wieder mit Stacheldraht und

Bewachung konfrontiert und sahen angstvoll einer unsicheren

Zukunft entgegen. Auch nach Auflösung der Internierungsla­

ger schlugen sich Emigranten unter schlechtesten Lebensbe­

dingungen durch. Manche Schiffe wurden auch von Hafen zu

Hafen weitergeschickt, bevor die Emigrierten irgendwo viel­

leicht doch an Land gehen durften. Auf der Flucht oder in un­

wirtlichen Fluchtorten war die Angst ständiger Wegbegleiter.

Hochangesehene und international begehrte Wissenschaftler

oder herausragende Schriftsteller wie Thomas Mann hatten

bessere Bedingungen der Aufnahme. Insgesamt jedoch war

für die meisten Emigrierten der Abschied von Deutschland

der Beginn einer langen, oft lebenslangen Strecke der Hei­

matlosigkeit und des sozialen Abstiegs.

Die Ängste von Vertriebenen und

Einheimischen nach 1945

1945 begann im zerstörten und besetzten Deutschland ein

neues Kapitel der Migrationsgeschichte: Zunächst suchten

diejenigen Schutz, die vor der vorrückenden Roten Armee

flohen, dann immer mehr Menschen, die nach den Bestim­

mungen des Potsdamer Protokolls aus den deutschen Ostge­

bieten oder aus Ostmitteleuropa ausgewiesen worden waren.

Allein nach Bayern kamen etwa zwei Millionen Menschen;

kleine Landgemeinden wuchsen oft um mehr das Doppelte

an. Hier eine Momentaufnahme aus dem Jahr 1946: Für das

kleine Dorf Pöcking bedeutete dies, dass 555 Einwohnern über

18 im Kerndorf 489 Zugezogene gegenüberstanden.

DIE FLÜCHTLINGE UND

Vertriebenen, darunter sehr viele Frauen

und Kinder, hatten oft dramatische und traumatische Flucht­

erlebnisse hinter sich. Oft sahen sie sich dennoch nach der

Ankunft mit hartherziger Ablehnung konfrontiert. Vielfach

ist in Erzählungen die Rede von zutiefst kränkenden Zu­

rückweisungen, von der Verzweiflung einer Familie, die mit

der wenigen geretteten Habe von Tür zu Tür oder gar von

Ort zu Ort zieht, ohne aufgenommen zu werden. Es ist die

Geschichte des Heimatverlustes sowie der verstörten und

verstörenden Ankunft in der Fremde. In anderen Erinne­

rungen tauchen dann auch freundliche Helfer, »Paten« im

neuen Lebensabschnitt auf, die sich der Hilflosen erbarmen,

die ein Herz haben und Wärme und Essen teilen. Auch von

heimlich zugesteckten Lebensmitteln, von Nachbarschafts­

hilfe beim Hausbau ist zu lesen. Es waren wohl beide Seiten

zu finden und die Erinnerung betont teils die einen, teils die

anderen Bilder.

Text:

Marita Krauss

Fotos: picture alliance / dpa/ Armin Weigel © IMAGNO, Sudetendeutsches Archiv München, Inv-Nr. 4496, © dpa