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aviso 2 | 2016

FREMDE, IN DER FREMDE

COLLOQUIUM

DIE EINHEIMISCHEN SAHEN

die Ankömmlinge oft als Eindring­

linge an. Es gab Bauern, die den Boden eines unbewohnten

Zimmers in ihrem Hof herausrissen, nur um keine Einquar­

tierung zu bekommen, sie lehnten es ab, die Küche oder gar

Essen mit den Zugewiesenen zu teilen, es kursierten bittere

Flüchtlingswitze und Spottnamen. Immer wieder wurde die

Angst formuliert, die Angst um die eigene Identität, um Be­

sitz und Verfügungsmacht, um Einfluss und Privilegien. Zu­

nächst erschienen die Vertriebenen meist als »die Fremden«.

Der Fremde, der Flüchtling, bot sich als Projektionsfläche für

die eigenen Ängste an, sie galten als »Habenichtse« und »Feld­

diebe«, als »Horden«, die Restdeutschland »überschwemm­

ten«. Diese »Flut- und Deichgraf-Metaphorik« ist bis heute

üblich, um Migrationen als Naturkatastrophen erscheinen

zu lassen.

Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieb der Soziologe

Georg Simmel den Fremden als »Provokateur«: In seinem

Anderssein provozierend gegenwärtig hat er die Gelöstheit des

Kommens und Gehens noch nicht abgelegt und demonstriert

den Einheimischen, dass die Welt, in der sie leben, keines­

wegs begründungslos selbstverständlich ist. Um ihre Identi­

tät nicht zu verlieren, müssen sie sich neu definieren, indem

sie sich von ihm abgrenzen; dies erleichtert der »Provoka­

teur« meist dadurch, dass er eine ganze Zeit am Wertesys­

tem seiner Heimat festhält. Dies löst Angst aus, so Simmel:

»Angst kommt auf, wenn Grenzen überschritten werden

müssen und wir von etwas Gewohntem, Vertrautem uns zu

lösen und uns in Neues, Unvertrautes zu wagen haben. Der

Fremde ist dabei wesentlich der Mensch, der fast alles, das

den Mitgliedern der Gruppe, der er sich nähert, unfraglich

erscheint, in Frage stellt.«

IM KONKRETEN FALL

der Vertriebenenintegration nach 1945

kam es letztlich zu einem guten Ende: Je mehr sich die Neu­

bürger als »tüchtig« erwiesen, als gute Facharbeiter, die zum

wirtschaftlichenWiederaufbau des zerstörten Landes beitru­

gen, desto leichter wurden sie akzeptiert. Es wurde dann eben

doch eine privilegierte Eingliederung: Es halfen die gleiche

Sprache, die gemeinsame Religion – obwohl es Protestanten

im katholischen Altbayern und Katholiken in Franken auch

nicht gut erging –, es half der Bezug auf eine gemeinsame

deutsche Kulturnation. Heute sagt ein Bauer aus Oberbay­

ern: »Ich weiß nicht, was die heut haben – damals sind es

viel mehr gewesen und des haben wir auch geschafft.« Die

Angst wurde durch Erfahrung besiegt.

Migration – der Normalfall

Und damit sind wir im Jahr 2016 und bei der aktuellen Flücht­

lingssituation: Wieder kommen Menschen mit dem Nötigs­

ten, mit traumatischen Fluchterfahrungen, voller Ängste

und Hoffnungen in das inzwischen reiche Deutschland. Die

Angst begleitete sie über das Meer, in den Schlauchbooten und

seeuntüchtigen Schiffen, gegenüber den Schleusern, auf der

Professorin Dr. Marita Krauss

vertritt in der Universität

Augsburg den Lehrstuhl für Europäische Regionalgeschichte

sowie Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte.

Zu ihren wichtigsten Forschungsthemen gehören Migration und

Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen, die Geschichte

von Emigration und Remigration, aber auch bürgerliche

Wirtschaftseliten in Bayern sowie Herrschaftspraxis in Bayern

und Preußen.

Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag im Haus des

Deutschen Ostens in München zum Themenschwerpunkt des

Jahres 2016 »Integration und Identität gestern und heute«.

Weitere Veranstaltungen unter

hdo.bayern.de

Zum Weiterlesen

Marita Krauss, Sarah Scholl-Schneider, Peter Fassl (Hg.),

Erinnerungskultur und Lebensläufe. Vertriebene zwischen

Bayern und Böhmen im 20. Jahrhundert – grenzüber-

schreitende Perspektiven. Volk Verlag München 2013.

Balkanroute an Zäunen und Grenzen. Die Macht der Bilder

ist bei dieser Migration überwältigend: Massen und Müll,

Menschen in überfüllten Zügen, wandernde Menschenmen­

gen auf Feldwegen, Bahnlinien und Autobahnen. Und wieder

greifen die Mechanismen, die bereits beschrieben wurden:

Hasserfüllte Demonstranten am Zaun von Flüchtlingscamps,

auf deutschen Straßen und Plätzen, Deichgrafmetaphorik

und Endzeitszenarien, unsägliche Kampagnen in den sozia­

len Medien. Wieder fürchten wir alle um Wohlstand und

Privilegien, wieder stellen sich Fragen von Identität, Besitz

und Verfügungsmacht.

NIEMAND KANN SAGEN,

wie diese heutige Herausforderung

bewältigt werden kann. Aber es lassen sich doch Erfahrun­

gen aus der Geschichte heranziehen: Es gibt gute Chancen,

dass auch diese Migration letztlich nicht zum Kollaps führt.

Wieso sollte sie, wenn auch im zerstörten Deutschland nach

1945 kein Bürgerkrieg ausbrach, als in Deutschland zwölf

und davon in Bayern zwei Millionen aufzunehmen waren?

Wieso sollte sie bei einer prosperierenden Wirtschaft und

geringer Arbeitslosigkeit, bei einer Wirtschaft, die in Zukunft

auf junge Leute angewiesen sein wird? Vergleichen wir noch

einmal die Zahlen: In Pöcking standen 1946 555 Einwohnern

über 18 imKerndorf 489 Zugezogene gegenüber; heute sind

es bei 4212 Einwohnern im Kernort Pöcking 141 Asylbewer­

ber bzw. Flüchtlinge. Und das soll nicht zu schaffen sein?

Der Blick in die Geschichte zeigt, dass Migration die Norma­

lität, nicht der Ausnahmefall war. Immer wieder machten

sich die Menschen auf den Weg, um im fremden Land neue

Chancen zu finden – nach dem 30-jährigen Krieg wurden

z. B. das Allgäu von Tirol aus und Franken von Böhmen aus

fast neu bevölkert, im 19. Jahrhundert brachen die Euro­

päer inMillionenzahl nach Amerika auf, im 20. Jahrhundert

holte man immer mehr Arbeitskräfte ins Land, die heute einen

nicht mehr wegzudenkenden Teil der deutschen Bevölkerung

darstellen. Auch Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber

kennen wir seit vielen Jahren. Immer wieder kam die Angst

auf, das sei nicht zu bewältigen – und immer wieder lehrte

die Erfahrung, dass es anders war. Wir können nicht in die

Zukunft sehen. Doch es ist Optimismus gefragt, nicht die

Angst.