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aviso 3 | 2016
ANTHROPOZÄN - DAS ZEITALTER DER MENSCHEN
COLLOQUIUM
vanz, die Museen häufig abgesprochen werden. In der Praxis
der Ausstellungsentwicklung sieht man sich allerdings vor
allem mit Herausforderungen konfrontiert: ein schier un-
durchdringbares Dickicht an möglichen Themen (ist nicht
irgendwie alles anthropozän?), eine hochaktuelle und noch
nicht abgeschlossene wissenschaftliche Debatte (vielleicht
ist es nur ein kurzer Hype, und die Idee des Anthropozän-
Erdzeitalters ist in der Versenkung verschwunden, bevor wir
eröffnen?), eine kaum zu greifende, geschweige denn begreif-
bar zu machende Komplexität von Themen und systemischen
Zusammenhängen (irgendwie hängt doch alles mit allem
zusammen…) und schließlich eine das Thema umwabernde
negative Stimmung (wir können doch ohnehin nichts mehr
ändern an der Umweltzerstörung!).
Dynamik eines Denkmodells
Während sich eines der »Probleme« ohne unser Zutun
zu unseren Gunsten entwickelte – das Anthropozän hat
in den letzten Jahren und Monaten eine unglaubliche
Konjunktur erlebt und wird inzwischen disziplinen- und
medienübergreifend diskutiert –, war es an uns, die Heraus-
forderungen der Komplexität und Aktualität anzunehmen.
Und genau das haben wir buchstäblich getan: Anstatt einem
nicht einzuhaltenden Ideal der Klarsicht und der eindeu-
tigen Antworten hinterherzulaufen, haben wir uns entschie-
den, das Thema in seiner Vielschichtigkeit, Widersprüch-
lichkeit und Unabgeschlossenheit auszustellen. So basiert
die Ausstellung auf einer fundierten wissenschaftlichen
Basis und präsentiert wahrscheinlichere Szenarien undMög-
lichkeiten, aber sie bietet weder einen vorgegebenen (Lern-)
Weg noch liefert sie abschließende Antworten oder fertige
Lösungen. Im Fokus stehen die Fragen, die im und an das
Anthropozän zu stellen sind, sowie die Argumente für mög-
liche Antworten. Nicht zuletzt im Deutschen Museum, wo
traditionell erklärt wird, »wie etwas funktioniert«, war diese
Herangehensweise kein geringes Risiko. Doch das Anthropo-
zän ist anders und so musste auch diese Ausstellung anders
werden.
Die Erwartungen, Kenntnisse und Vorlieben unserer 1,4Mil-
lionen Besucher jährlich sind vielfältig, doch die sehr guten
Besuchszahlen und die vielen positiven, gar enthusiastischen
Rückmeldungen zeigen, dass es richtig war, diesen Weg zu
gehen. Viel zu oft unterschätzenMuseen ihre »Kundschaft«.
Das große Interesse und die hohe Emotionalität, die in der
vorbereitenden Umfrage sichtbar wurden, haben sich be-
stätigt: Die Menschen wollen nachdenken, diskutieren und
sich engagieren. Kontroverse Themen, komplexe Inhalte
und offene Fragestellungen gehören ins Museum und haben
ihren legitimen Platz neben der Wissensvermittlung und
dem Spaßfaktor. Auch in der Anthropozän-Ausstellung
gehen fordernde, manchmal irritierende Inhalte gut zusam-
men mit historischen Abbildungen und Scribble-Videos, die
ein Schmunzeln hervorrufen oder Hands-On-Modellen, die
Fakten über die weltweite Ernährungslage oder das Städte-
wachstum in China vermitteln.
Grenzüberschreitungen
Sowohl die geologische Debatte umdas Anthropozän als auch
das darüber hinaus reichende philosophische Konzept ist von
systemischenWechselwirkungen geprägt. Das Anthropozän
fordert uns nicht nur, naturwissenschaftliche, soziale, kul-
turelle und ökonomische Perspektiven zusammenzudenken,
sondern schafft auch eine neue Fluidität zwischen Vergangen-
heit, Gegenwart und Zukunft. Das Lokale ist global geworden
und umgekehrt. Diese permanenten Grenzüberschreitungen
führen zu einer notwendigen Aufhebung der traditionell sek-
toralen Aufteilung in Fachgebiete, die sich nicht nur in den
Wissenschaften, sondern auch in Museen und ihren Samm-
lungen etabliert hatte. In unserer Sonderausstellung drückt
sich dies durch das Nebeneinander von Objekten technischer
und naturwissenschaftlicher Provenienz und naturkundlichen,
ethnologischen und künstlerischen Exponaten aus. Als Kris
tallisations- und Kreuzungspunkte von Erfahrungen, Per-
spektiven und Bedeutungen dienen die Ausstellungsstücke
als Anfang und Ziel einer umschweifenden, kreisenden und
wechselseitigen Reflexionskette, deren offenes Ende Anlass
zu neuen Überlegungen und Erkenntnissen gibt.
Wir sind anthropozän!
Neben die systemischen Abhängigkeiten der anthropozänen
Phänomene tritt einWechselspiel der Mikro- undMakroebene:
das globale Kollektiv und das lokale Individuum sind gleicher-
maßen bedeutsam für die Gestaltung des neuen Erdzeitalters.
Ein prägendes Motto der Ausstellung lautet deshalb: Du bist
anthropozän! Die Erde macht uns alle zu globalen Akteuren,
egal wie klein wir unseren Wirkungsradius einschätzen mö-
gen. Durch das Spiel des Herein- und Herauszoomens werden
die globalenWirkungen unseres Handelns sicht- und greifbar
gemacht und ermöglichen eine persönliche und emotionale
Reaktion auf die Phänomene und Probleme des Anthropo-
zäns – eine Notwendigkeit, um von der Bewusstmachung zu
verantwortungsvollem Handeln zu gelangen. Wie hoch die
Motivation der Besucherinnen ist, sich nach dem Ausstel-
lungsbesuch im Alltag weiterhin mit Themen des Anthro-
pozäns zu beschäftigen, zeigen sowohl eine wissenschaft-
liche Besucherstudie als auch die vielen eindrucksvollen und
nachdenklichen Kommentare der künstlichen Blumenland-
schaft, die die Ausstellung abschließen. Symbolisch werden
die Besucher hier eingeladen, zu Gärtnern des Anthropozäns
zu werden, indem sie ihre Gedanken, Ängste, Wünsche, Hoff-
nungen und Lösungsansätze auf ein Blatt Papier schreiben
und als Blume gefaltet in die Landschaft pflanzen. Aus vie-
len Kommentaren spricht große Besorgnis und Angst, aber
durchaus auch Hoffnung undMut, die Probleme des Anthro-
pozäns anzupacken. Vor allem die jüngeren Besucherinnen
sprühen vor Ideen, Energie und Einsatzwillen. Das stimmt
zuversichtlich, denn ihnen wird es wohl oder übel vor allem
zukommen, die Umweltprobleme zu lösen und ein lebens-
wertes undmöglichst langes Erdzeitalter Anthropozän für alle
Menschen zu gestalten. Das große Wissen, die Begeisterung
und die Sensibilität, die die Teilnehmer unserer Kinderpro-