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tet. Möglicherweise imRückgriff auf die Aussage
einer Cree, die man dann überschrieb. Denn dort
war nicht von Umweltzerstörung die Rede, son-
dern von den Toten (Ermordeten) des Stamms, die
als RainbowWarriors zurückkehren würden. Wie
viele Kulturen und Sprachen haben wir Europäer
vernichtet und überschrieben!? Heute bevölkern
Manifestationen unserer latenten Schuldgefühle
Filme und Bücher: ein Heer von Wiedergängern.
Rückblickend vermute ich, dass der vermeintliche
»Cree-Spruch« mit seinem an eine Moralpredigt
erinnerndenWenn-Dann-Aufbau deshalb bei uns
so beliebt war, weil er über die Geste hinaus nichts
Konkretes einforderte, keine Auswirkungen auf
meinen Lebensstil hatte. Täglich bewegen wir
uns ja und ganz mühelos in solch zwiegespalte-
ner Rede und Handlung:
Schrecklich, der Smog
in China – o guck, die Jeans ist ja billig! Die Hitze
ist unerträglich – zum Glück fliegen wir morgen
in Urlaub.
Bezeugen in einem poetischen Sinn hätte nichts
gemein mit dem Erzeugen von Jammer und
Schaudern, auch nichts mit Überzeugen. Um zu
bezeugen, was jetzt und jetzt von mir und mir
verursacht wird, was passiert und verloren geht,
gilt es, gespaltene Redeweisen durchzumengen,
méli-mélo, sodass »Natur« und »Mensch« sich
nicht mehr entmischen können. Erst eine »Na-
menschtur« zeigte die Synchronizität der anthropo-
zänen Prozesse und wo wir dabei stehen, nämlich
inmitten.
*inmitten sein*
Vor mir, um mich der graue Mergel nur,
Was drüber sah ich nicht; doch die Natur
Schien mir verödet, und ein Bild erstand
Von einer Erde, mürbe, ausgebrannt;
Ich selber schien ein Funken mir, der doch
Erzittert in der toten Asche noch,
Ein Findling im zerfall’nen Weltenbau.
Diese Verse aus Annette von Droste-Hülshoffs
Gedicht »Die Mergelgrube« rühren an die alte
Frage des Wie-sich-ins-Verhältnis-Setzens. Wäh-
rend das Sprecher-Ich hier rundum von der Erde
umgeben ist, blickt Goethes Faust in Faust II von
oben herab aufs Element Wasser:
Nun schwillt’s und wächst und rollt und überzieht
Der wüsten Strecke widerlich Gebiet.
Da herrschet Well’ auf Welle kraftbegeistet,
Zieht sich zurück, und es ist nichts geleistet,
Was zur Verzweiflung mich beängstigen könnte!
Zwecklose Kraft unbändiger Elemente!
Da wagt mein Geist, sich selbst zu überfliegen;
Hier möcht’ ich kämpfen, dies möcht’ ich besiegen.
Faust bezeichnet die an Lebensformen reiche See,
Ursprung des irdischen Lebens, als »wüste Stre-
cke«, die es zu besiegen gelte. ImDraufblick proji-
ziert er Ängste undWünsche auf das Element, um
daraus seinen Geo-Engineering-Plan zu entwickeln.
Dagegen ist die »verödete Natur« bei Droste keine
Projektion, hat nichts zu tun mit Selbstverwirkli-
chungswünschen, sondern nimmt ihren Ausgang
konkret bei der »Mergelgrube« und ihren mög-
lichen Auswirkungen. Das vor allem Kalk enthal-
tende Sedimentgestein wurde früher zur Aufwer-
tung trocken gelegter Moore verwendet. Anfangs
wirkte es als Dünger effektiv, hinterließ jedoch bald
»ausgemergelte« Böden. Die Mergelgrube ist ein
frühes Beispiel für die Landschaftsveränderung
durch Menschen. Heute entspräche ihr ein größe-
rer Tagebau, etwa die meilenweit aufgebrochenen
Böden im kanadischen Ölsandrevier, samt Schwe-
felhalden und Abwasser. Ich lese Drostes Vision
an den pulten sitzen männer & mischen die schatten
seitdem läuft alles auf notstrom
auch der wind
seitdem die erdrotation aus-
läuft
· über die aggregate
fällt · die wachstumskurve aus dem
wind · wird nachts an-
geworfen & nach dem herunter-
fallen · die wachstumskurven schlagen
aus · dem diagramm fah-
ren
seit dem re-
boot der letzten sonne windet sich etwas
zwischen uns · gibt es keinen applaus mehr
für die ingenieure · ändern sich wieder die zeiten
Christian Schloyer
, *1976 in Erlangen, lebt als
Schriftsteller und Werbetexter in Nürnberg.
Mitbegründer u. a. von Wortwerk und Literatur-
Ding e. V., verantwortet die Nürnberger
Lyriknacht. Er erhielt für seine Lyrik mehrere
Preise. Das abgedruckte Gedicht stammt
aus dem Gedichtband »panik • blüten«
(© poetenladen Verlag, Leipzig 2012).
aviso 3 | 2016
ANTHROPOZÄN - DAS ZEITALTER DER MENSCHEN
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