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aviso 3 | 2016
ANTHROPOZÄN - DAS ZEITALTER DER MENSCHEN
COLLOQUIUM
Karin Fellner,
*1970, lebt und arbeitet
in München als Autorin, Lektorin und
Schreibcoach. Für ihre Lyrik wurde sie
mehrfach ausgezeichnet. Bislang
erschienen von ihr vier Gedicht-Einzel-
bände, der aktuellste ist »Ohne
Kosmonautenanzug« (parasitenpresse,
Köln 2015).
Zum Weiterlesen
Gedichte im Anthropozän
Die drei hier abgedruckten Gedichte
stammen aus der Anthologie »all dies
hier, Majestät, ist deins. Lyrik im
Anthropozän« (kookbooks 2016).
Darin haben die Herausgeberinnen Anja
Bayer und Daniela Seel Gegenwarts-
gedichte von rund 125 deutschsprachi-
gen Autor*innen versammelt. Viel-
fältig, experimentell und kritisch setzen
sich die Texte mit der Frage ausein-
ander, wie ein poetisches »Schreiben
vor dem Horizont geologischer
Zeit« aussehen könnte. Initiiert wurde
das Projekt von Anja Bayer, Lektorin im
Verlag des Deutschen Museums,
die in Kooperation mit dem Lyrik Kabinett
zum Welttag der Poesie 2015 bereits
eine Lesung in der aktuellen Sonderaus-
stellung »Willkommen im Anthropozän«
veranstaltete.
»all dies hier, Majestät, ist deins. Lyrik
im Anthropozän« wird begleitet von drei
Essays, darunter ein Beitrag des Lite-
raturwissenschaftlers Axel Goodbody
sowie ein Beitrag von Helmuth Trischler,
Technikhistoriker und Forschungsleiter
des Deutschen Museums. Der hier
abgedruckte Essay von Karin Fellner
entstand für die Anthologie.
Buchpräsentation im Deutschen Museum
am 24.7., 11.30 Uhr
Am Sonntag, den 24. Juli 2016, wird die
Anthologie »all dies hier, Majestät, ist
deins. Lyrik im Anthropozän« um 11.30
Uhr in der Anthropozän-Ausstellung des
Deutschen Museums vorgestellt.
Die beiden Herausgeberin-
nen lesen zusammen mit Dichter*innen
aus dem Buch. Das Grußwort zur
Veranstaltung spricht Dr. Holger Pils,
Leiter des Lyrik Kabinetts München.
Anja Bayer und Daniela Seel (Hg.):
»all dies hier, Majestät, ist deins. Lyrik
im Anthropozän«. Lyrik im Anthropozän,
kookbooks, Berlin 2016, ca. 320 Seiten,
22,90
€
, ISBN: 978-3-937445-80-9.
beim Arbeiten: zweckgerichtet, und beim Denken: zielorientiert. Das wird v. a.
in Städten von einer Architektur gespiegelt, die uns nicht innehalten, abschwei-
fen, trödeln lässt, sondern von A nach B, von einem ins nächste Konsum- oder
Dienstleistungszentrum schleust.
Nichts deutet darauf hin, daß die Planer von
La Défense der Ansicht waren, dieser Raum besitze einen Wert für sich und
die Leute könnten den Wunsch verspüren, darin zu verweilen. […] Mit ande-
ren Worten, der öffentliche Raum wird zu einer Funktion der Fortbewegung.
(Richard Sennett)
Überhaupt kann ich der Sebald’schen Überlegung zur Architektur und der
darin enthaltenen »Small-is–beautiful«-Idee nur beipflichten:
Man müßte ein-
mal, sagte er noch, einen Katalog unserer Bauwerke erstellen, in dem sie ihrer
Größe nach verzeichnet wären, dann würde man sogleich begreifen, daß die
u n t e r dem Normalmaß der domestischen Architektur rangierenden Bauten
es sind – die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schleusenwärters, der
Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten –, die wenigstens einen Abglanz
des Friedens uns versprechen […].
Ich gehe durch wachsende Viertel, über renaturierte Ufer, bis mir ein Brennnes-
seleck reizend und feixend ins Hirn fährt und ich merke, wie eng mein Verlust-
Denken ist:
Ich stand so und horchte, und plötzlich befiel mich ein unsagbares Weltempfinden
und ein damit verbundenes, gewaltsam aus der Seele hervorbrechendes Dank-
barkeitsgefühl. Die Tannen standen kerzengerade wie Säulen da, und nicht das
geringste rührte sich im weiten zarten Walde, den allerlei unhörbare Stimmen
zu durchklingen und zu durchhallen schienen.
Es muss kein Bergwald sein wie bei Robert Walser, es reicht eine Brennnessel
zwischen Kunststeinen. Oder Luft, die aus meinen Lungen über die von Bak-
terien reiche Zunge geht und zurückkommt, voll von Atemgasen der Pflan-
zen und Abgasen der Autos, in wechselnder Konzentration. Das Paradoxon –
durchklingende, »unhörbare Stimmen« – kommt dem Austausch, dem Durch-
lässig-Werden als Sprachfigur recht nah. Das »Ich« lösen und mit Mechthild
von Magdeburg diesen Zustand begrüßen:
gerne ungeehrt, gerne ungefürch-
tet, gerne allein, gerne stille, gerne niedrig, gerne erhöht, gerne vereint.
Oder
wie bei Christine Lavant gebündelt und aufgerührt werden abseits der Denk-
bahnen:
Hinter dem Rücken des Hirns
am Zusammenkunftsort aller Aufmerksamkeiten
wacht und erweckt mich der Föhn
für den Nelkenweg in die Verklärung.
Eia, Mut zum »Verklären«! Das haben Gedichte. Und sind nie abgeklärt oder
glatt, sind zahnlückig und stacheln. Es gibt so viele Texte, die fokussierend sor-
tieren, Überblick suggerieren und begrifflich fixieren. Lieber bin ich dort, wo
paradoxe, poetische Sprache mich an das Vergnügen des Schweifens
und
Inne-
haltens erinnert. Was hilft die Lyrik uns nun aber weiter im Anthropozän? Pas
plus que ça, capitain!
* *
Die Poetin weiß sich haftbar, z. B. für Fruchtfliegen mit vierzehn Augen, gene-
tisch umgestaltet. Inmitten des roten Schwarms sitzt sie in Vielfalt, bezeugt von
Drosophila, defokussiert mit Augen an Fühlern, an Knien, mit Augen an Augen,
wird durchlässig für den Komplex.