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aviso 3 | 2016

ANTHROPOZÄN - DAS ZEITALTER DER MENSCHEN

COLLOQUIUM

einer »mürben, ausgebrannten Erde« nicht als

Pauken-und-Drommeten-Apokalypse. Sie zeugt

von einemBewusstsein der größeren Erdgeschich-

te, die die Menschenzeit um ein Vielfaches über-

steigt. In diesem Bewusstsein bewundert das

Ich die mannigfache Schönheit der Gesteine und

reflektiert ihre Herkunft:

Wie zürnend sturt mich an der schwarze Gneus,

Spatkugeln kollern nieder, milchig weiß,

Und um den Glimmer fahren Silberblitze;

Gesprenkelte Porphyre, groß und klein,

Die Ockerdruse und der Feuerstein –

Nur wenige hat dieser Grund gezeugt,

D e r sah den Strand, und d e r des Berges Kuppe;

Die zorn’ge Welle hat sie hergescheucht

[…]

Ha, auf der Schieferplatte hier Medusen –

Noch schienen ihre Strahlen sie zu zücken,

Als sie geschleudert von des Meeres Busen,

Und das Gebirge sank, sie zu zerdrücken.

Steine und Fossilien treten den Lesern nicht als zu

bezwingende oder zu vermarktende Objekte entge-

gen. Sie sind, wie das Ich, lebendiger Teil des stau-

nenswerten Ganzen, der Erdgeschichte. Insofern

thematisiert Drostes Gedicht avant la lettre das

»lange Jetzt«, das die Folgen menschlichen Han-

delns weit in die Zukunft hinein mitbedenken will.

Bei Faust ist Natur – ob als »anmutige Gegend«

oder »starre, zackige Felsengipfel« – ein Objekt,

das selbst in der vertrauten Anrede »Du« dem

Subjekt in erster Linie als Katalysator für künf-

tige Selbstverwirklichungspläne dient:

Du, Erde, warst auch diese Nacht beständig

Und atmest neu erquickt zu meinen Füßen,

Beginnest schon, mit Lust mich zu umgeben,

Du regst und rührst ein kräftiges Beschließen,

Zum höchsten Dasein immerfort zu streben.

In Drostes »Mergelgrube« treten Subjekt und

Objekt nicht ungetrennt auf, sie gehören zum kom-

plexen, in Verwandlung befindlichen System der

Erde. Auch in der Vision von einem verödeten Pla-

neten bleibt das Ich mitbetroffen, wird selbst zum

fossilisierten Überbleibsel:

Es ist gewiß, die alte Welt ist hin,

Ich Petrefakt, ein Mammutsknochen drin!

*defokussieren*

Wirf eine Handvoll Federn hin, und alle fallen

nach bestimmten Gesetzen zu Boden, aber wie ein-

fach ist die Frage, wohin eine jede fallen wird, im

Vergleich mit der nach der Wirkung und Gegen-

wirkung der unzähligen Pflanzen und Tiere, die

imLaufe von Jahrhunderten die Verhältniszahlen

und Arten der Bäume bestimmt haben, die jetzt

auf dem alten indianischen Mauerwerk wachsen.

Von Darwins Überlegungen wurde (auch von ihm

selbst) der »Kampf ums Dasein« so in den Brenn-

punkt gerückt, dass die von ihm ebenfalls benann-

te Kooperation von Lebensformen verblasste. Be-

griffe wie »Kampf«, »Auslese« und »Optimierung«

passten sich vermutlich gut ein in die Diskurse des

19. Jahrhunderts, vom Fortschrittsglauben bis zum

Kolonialismus. Inzwischen haben Heisenbergs

Unschärferelation und »rhizomische« Denkmo-

delle andere Möglichkeiten des Beobachtens in die

Diskurse eingebracht. Dank der nicht intendierten

Unschärfe eines Mikroskops entdeckten Forscher

2003 laut

spektrum.de

bei der Untersuchung von

Fresszellen

in dem unscharfen Bild etwas Überra-

schendes: dunkle Wellen, die sich vom Rand der

Zelle nach innen bewegten. […] Tatsächlich waren

die Forscher in der Lage, aus den Kontrasten der

unscharfen Bilder die Wölbungen auszurechnen

und so ein dreidimensionales Bild der Zelle und

natürlich auch der Wellen, die durch ihren Kör-

per liefen, zu erzeugen.

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beine wie gitter, als hätten die bäume zu gehen verlernt.

ritz in die rinde, versuch dich zu erinnern. als der häftling

seinen mund öffnete, begann die naturkunde zu schweigen:

präpariertes laub, das sich auf fassaden ausbreitete, fenster,

feinste mechanismen der luftzufuhr zu einer zoologie der

pflanzen. zellen. oder lichtungen von oben, erogene zonen

des walds, deren umsiedlung zum bleiben verführte. kaum,

dass die gewebe sich im sitzprotest befanden, begann die blatt-

werdung der äußeren schichten: haut der gebäude, häutung,

gezähmtes grün, zog sich fell über und wärmte fortan. schutz

ums schmerzgedächtnis. narben schlossen den geöffneten bereich.

Tristan Marquardt

, *1987 in Göttingen, lebt in München.

Organisiert die Lesereihe »meine drei lyrischen ichs« und

veranstaltet mit KollegInnen den »Großen Tag der jungen

Münchner Literatur«. Das abgedruckte Gedicht stammt aus

seinem Lyrikband »das amortisiert sich nicht«

(© kookbooks, Berlin 2013).