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Toni Pfülf (1877–1933)

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

scher Weise das Wort.

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Sie lobt den Rat zunächst, weil

er erkannt habe, dass die Jugendbildung die notwendige

Voraussetzung für eine Revolution ist. „Keine dauernde

Revolutionierung der Geister, wenn Sie die Jugend nicht

haben!“ Sodann mahnt sie die Räte, auch dafür Sorge zu

tragen, „daß freie Menschen in den Erzieherberuf hinein-

kommen […] Unsere Seminarien heute sind Hochburgen

sklavischen Sinnes, das kann ich Ihnen aus eigener Über-

zeugung heraus sagen. Wenn wir unserer Jugend Freiheit

geben wolle, dann müssen wir Sie in Freiheit üben […]“

An dieser Stelle kommt es auch zu einem kleinen Wort-

wechsel mit dem Delegierten Erich Mühsam. Sie kritisiert

dessen Äußerung, jedem einzelnen würde das Recht zuste-

hen, seine Dummheiten auf eigene Verantwortung zu

machen. Mühsam stellt darauf hin klar, dass ein Missver-

ständnis vorliege und er im Scherz gesprochen habe. Von

feindlicher Stimmung oder einem erregten Wortwechsel

11 Die folgenden Zitate aus: Verhandlungen des provisorischen Nationalrates

des Volksstaates Bayern im Jahre 1918/19 Beil. 3, S. 186. http://daten.

digitale-sammlungen.de/bsb00009666/image_200

[Stand: 01.05.2017].

zwischen den beiden kann laut Protokoll nicht die Rede

sein. Auch dann nicht, als die Delegierte Pfülf anschlie-

ßend auf das Thema Frauen zu sprechen kommt. Schon

seit dem Erfurter Programm (1891) steht das Wahlrecht

für Frauen als sozialdemokratische Forderung festgeschrie-

ben. Doch Pfülf weist in ihrer Rede auf die Diskrepanz

zwischen programmatischen Äußerungen und praktischer

Politik hin. Vor den 280 Delegierten moniert sie: „Auch

heute sehe ich nur fünf Frauen im ganzen Arbeiterrate.

Das kann so nicht gehen. Wenn Sie die Frau nicht als totes

Gegengewicht gegen jede Revolutionierung haben wollen,

so müssen Sie die Frau politisieren. Dann müssen Sie erst

Ihren eigenen Geist revolutionieren und daran denken,

daß, wenn die Frau eine Genossin im Staatsleben ist, sie

ein Recht hat, am Staatsleben mitzuwirken.“

Wahl in die Deutsche Nationalversammlung

Mit Ausruf des Freistaates Bayern am 7. November 1918

proklamiert Kurt Eisner das Wahlrecht für Frauen in Bay-

ern. Durch die „Verordnung über dieWahl zur Verfassung-

gebenden Deutschen Nationalversammlung“ wird dieser

Schritt kurz darauf auch auf Reichsebene vollzogen. Am

12. Januar 1919 wird der Bayerische Landtag gewählt –

drei Frauen erringen hier ein Mandat. Sieben Tage später,

am 19. Januar, folgt die reichsweite Wahl zur Deutschen

Nationalversammlung. Unter den insgesamt 432 Abge-

ordneten, die sich am 6. Februar 1919 zur Nationalver-

sammlung in Weimar konstituieren, sind 37 Frauen. Eine

von ihnen ist Toni Pfülf. Sie vertritt die SPD imWahlkreis

24 (Oberbayern und Schwaben).

Der Fraktionsvorsitzende Paul Löbe (ab 1920 Reichs-

tagspräsident) bezeichnet sie in seinen Lebenserinnerun-

gen als „eine der klügsten und tapfersten Vertreterinnen,

eine Sozialistin der Tat, von sprudelnder Lebendigkeit

und warmer Menschenliebe“.

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Und er hält fest: „Daß die

Sozialdemokratische Partei die aus einem wohlhabenden

Bürgertum stammende Frau an die Spitze der Kandida-

tenliste für einen bäuerlichen Wahlkreis Oberbayerns und

Schwabens setzen konnte, war damals ein gewagtes Expe-

riment. Aber der Ausfall [gemeint: Ausgang] der Wahl, in

der sie glatt siegte, gab Zeugnis davon, daß diese heitere

und volksverbundene junge Frau sich schon damals die

Herzen der einfachen Menschen erobert hatte. Sie hat sich

diese Popularität immer bewahrt, denn sie war in jedem

Städtchen des großen Wahlkreises persönlich bekannt.

12 Paul Löbe: Der Weg war lang. Lebenserinnerungen von Paul Löbe, ehemals

Präsident des Reichstages, Berlin 1954, Seite 79.

Erich Mühsam, Schriftsteller, Publizist und Politiker (1878–1934). Er wurde

1934 im Konzentrationslager Oranienburg ermordet.

Foto: sz-photo/Scherl