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Rezeption der Weißen Rose in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR

Einsichten und Perspektiven 3 | 16

Gemeinde 

41

im Frühjahr 1953, bei der auch Schüler von

der Eisenberger Oberschule verwiesen wurden. Unter der

Leitung des FDJ-Klassensekretärs Ammer setzten sich Mit-

schüler für die Betroffenen ein. Mit dieser Erfahrung und

unter den Eindrücken des gescheiterten Volksaufstands

am 17. Juni 1953 beschloss man, künftig gegen das Sys-

tem Widerstand zu leisten. So wurden westdeutsche und

eigene Flugblätter verbreitet, Wände und Güterwaggons

mit Losungen beschrieben oder Symbole der SED ent-

fernt; am 21. Januar 1956 brannte der „Eisenberger Kreis“

die Baracke eines Schießstands der SED-Kampfgruppen

und der Gesellschaft für Sport und Technik ab. 1955 ging

Ammer zum Studium der Medizin an die Friedrich-Schil-

ler-Universität Jena und erweiterte die Gruppe über Eisen-

berg hinaus. Versuche, weitere Ableger in anderen Städten

der DDR zu gründen, scheiterten jedoch.

Mut zumWiderstand 

42

„Die Kampagne gegen die christliche ‚Junge Gemeinde‘ an

den Oberschulen im Frühjahr 1953 hatte bei den Betroffe-

nen und bei den anderen, die diese Kampagne ablehnten,

ein Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber der

scheinbaren Allmacht von SED, FDJ und Schulbehörden

entstehen lassen. Aus diesem Erlebnis und nicht zuletzt unter

dem Eindruck des Volksaufstands vom 17. Juni ging der Ent-

schluß hervor, sich in einer ähnlichen Lage nicht noch einmal

überrumpeln zu lassen, sich darauf vielmehr durch Abspra-

che unter Gleichgesinnten vorzubereiten. […] Als wichtigste

Methode zur Realisierung dieser Ziele galt der Einsatz pro-

pagandistischer Mittel. Durch Flugblätter, Anbringen von

Parolen und Zeichen an Mauern, Eisenbahnwaggons usw.

sowie durch symbolische Aktionen sollten die Bürger zum

passiven Widerstand aufgefordert und ihnen vor allem der

Gedanke nahe gebracht werden, daß mit zunehmender

Ausdehnung dieser Art des Widerstands – etwa als ‚Wahl‘-

Boykott, als Boykott der Massenorganisationen, von ange-

ordneten Versammlungen und Kundgebungen, verlangsam-

tes Arbeitstempo in den Betrieben usw. – Repressalien des

Regimes erschwert und schließlich undurchführbar würden.

Angestrebt wurde weder ein bewaffneter Aufstand noch sonst

eine gewaltsame Auseinandersetzung mit der Staatsmacht.“

41 Die Junge Gemeinde wurde im Frühjahr 1953 als „illegale Organisation

Junge Gemeinde“ angegriffen. So wurden etwa Schüler, die sich nicht zum

Austritt aus der Jungen Gemeinde entschlossen, von den Oberschulen re-

legiert (etwa 3.000 Schüler). Die Jungen Gemeinden boten in der DDR

neben der religiösen Orientierung die Möglichkeit, sich unabhängig von

der Zensur systemkritisch zu äußern und blieben damit die einzige unab-

hängige Jugendbewegung.

42 Ammer (wie Anm. 34), S. 89, 91.

Flugblätter im Namen der Weißen Rose

Seit Mitte September 1957 bereiteten Ammer und Herr-

mann eine der größten Aktionen des Eisenberger Kreises

vor. 

43

In einem Flugblatt sollten die Hochschullehrer der

drei Universitäten Jena, Halle und Leipzig zum Wider-

stand aufgefordert werden. Dem ursprünglichen Plan, die

Bevölkerung mehrerer Städte anzuschreiben, hatte man

aus organisatorischen Gründen verworfen. Stattdessen

schienen die Hochschullehrer der drei Universitäten über

die Vorlesungsverzeichnisse leicht erreichbar. Doch sowohl

das Abfassen des Flugblattes als auch die technische Her-

stellung brachten große Schwierigkeiten mit sich. Zunächst

konnten sich Ammer und Herrmann nicht auf eine Text-

fassung einigen. Deshalb sollten zwei Versionen verschickt

werden. Während Ammers Text, in dem es wohl mehr um

die nachlassende Leistungsfähigkeit ostdeutscher Univer-

sitäten ging, nicht mehr erhalten ist, wurde der Text von

Peter Herrmann in den Akten des MfS überliefert.

Wiederherstellung der Demokratie 

44

„Wir waren uns völlig im Klaren darüber, daß die zu unse-

rer Zeit noch gültige Verfassung der DDR aus dem Jahr

1949 seitens der Machthaber ständig gebrochen wurde und

daß es darum ging, den in dieser Verfassung niedergelegten

Grundsätzen wieder zu ihrer Gültigkeit zu verhelfen. […]

Unsere politische Konzeption konnte daher nur zwei

zentrale Punkte haben, nämlich die Wiederherstellung

einer funktionierenden, wirklich pluralistischen parla-

mentarischen Demokratie auf dem Gebiet der SBZ/DDR

und in ihrem Gefolge die Wiederherstellung der staatli-

chen Einheit Deutschlands.“

Erinnern die Schwierigkeiten beim Verfassen und der Pro-

duktion der Flugblätter bereits an die Weiße Rose, 

45

so fal-

len auch inhaltlich Parallelen zwischen Herrmanns Entwurf

und den Flugblättern der Weißen Rose auf. So nahm Herr-

mann mit den einleitenden Worten „Die Stunde verdient

es, sich zu sammeln und wenigstens den Mut zu haben,

einmal nachzudenken, …“ indirekt Bezug auf aktuelle poli-

tische Ereignisse wie demUngarischen Volksaufstand 1956.

43 Siehe hierzu ausführlich von zur Mühlen (wie Anm. 35), S. 108–113, hier

auch das Flugblatt transkribiert, S. 230ff.

44 Frömel (wie Anm. 38), S. 233 f.

45 Gerade die Beschaffung des Materials (Papier, Briefumschläge oder Brief-

marken) bereitete in beiden Widerstandsgruppen große Probleme. Zwi-

schen Kurt Huber und Alexander Schmorell bzw. Hans Scholl ist eine Aus-

einandersetzung über das sechste Flugblatt der Weißen Rose und darin

Hubers ursprünglicher Formulierung „Stellt Euch weiterhin geschlossen in

die Reihen unserer herrlichen Wehrmacht“ bekannt.