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Rezeption der Weißen Rose in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR
Einsichten und Perspektiven 3 | 16
Ebenso zog er historische Vergleiche, wie es die Weiße Rose
in ihren Flugblättern getan hatte: „Es wäre wahrlich beleidi-
gend naiv, Ihnen die Parallelen zwischen diesem totalitären
System und dem Dritten Reich aufzuzählen.“ Zudem ver-
wendete Hermann ein Zitat von Thomas Mann aus des-
sen Vortrag „Vom kommenden Sieg der Demokratie“, mit
dem der Autor 1938 eine Vorlesungsreise durch die USA
gemacht hatte: „für dieDauer ist keinDoppellebenmöglich,
um in Harmonie mit sich selbst zu sein, paßt der Mensch
notgedrungen seine Gedanken dem äußeren verhalten an,
zu dem die Gewalt ihn zwingt.“
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Mit dieser Textstelle, die
46 „Ich nannte die Demokratie zeitlos-menschlich und ihren heute so sieghaft
auftretenden Gegner, den Faschismus, eine Zeiterscheinung. Ich vergesse
dabei nicht, daß auch er tiefe und vielleicht unzerstörbare Wurzeln im
Menschlichen hat; denn sein Wesen ist die Gewalt. An sie, die physische
und geistige Vergewaltigung, glaubt er, sie praktiziert er, sie liebt, ehrt und
verherrlicht er, sie ist für ihn nicht erst die ultima, sondern die prima ra-
tio, – und wir wissen nur zu gut, daß die Gewalt ein ebenso menschlich-
unsterbliches Prinzip ist wie ihr Gegenteil, der Gedanke des Rechtes: sie ist
das unerbittlich Tatsachen schaffende Prinzip, sie kann alles oder fast alles;
nachdem sie sich durch Angst die Körper unterworfen, unterwirft sie sich
sogar die Gedanken – denn der Mensch kann auf die Dauer kein Doppelle-
ben führen; um in Harmonie mit sich selber zu sein, paßt er notgedrungen
seine Gedanken dem äußeren Verhalten an, zu dem die Gewalt ihn zwingt.“
Thomas Mann: Vom kommenden Sieg der Demokratie (1937), in: ders.:
Schriften zur Politik, Frankfurt am Main 1972, S. 106–135, hier: S. 111.
Herrmann leicht abgeändert zitierte, unterstrich er seine
Absicht, das Vertrauen der Hochschullehrer zu gewinnen,
und seinen festen Glauben an die Demokratie. „Die sozi-
ale Demokratie ist das ewig Junge, das Menschlichste“, so
noch einmal ausdrücklich zum Schluss des Textes. Nach
ausführlichem Appell an die „Macht des Geistes“ verwies er
schließlich mit einer Widmung auf die Weiße Rose selbst:
„Voller Besorgnis, die freien Stimmen könnten verhallen,
gedenken wir besonders heute ihrer Opfer in aller Welt.
Doch hier ist unser Platz, hier ist unsere Pflicht.
Den Geschwistern Scholl“
Wurden bereits imText bewusst Bezüge zumNationalsozia-
lismus hergestellt, so gab diese abschließende Widmung an
die „Geschwister Scholl“ dem Flugblatt eine moralische
Fundierung. Denn die Erinnerung an die Weiße Rose war
in den 1950er Jahren im öffentlichen Vergangenheitsdis-
kurs der DDR fest verankert und ihr Vorbild kulturpoli-
tische Pflicht – vor allem an Schulen und Universitäten.
Somit fand mit dem Hinweis auf die „Geschwister Scholl“
eine Legitimierung des Aufrufs zum Widerstand statt. Mit
dem Flugblatt wurde also das erfüllt, was man von der Ju-
gend in der DDR erwartete.Unterstrichen wurde diese
Pflicht zum Protest durch das Zitat der Verteidigungsrede
von Kurt Huber am 19. April 1943 vor dem Volksgerichts-
hof, das die ganze Rückseite in beiden Flugblattentwürfen
von Ammer und Herrmann einnehmen sollte:
„Als deutscher Staatsbürger, als deutscher Hochschul-
lehrer und als politischer Mensch erachte ich es als Recht
nicht nur, sondern als sittliche Pflicht, an der Gestaltung
der deutschen Geschicke mitzuarbeiten, offenkundige
Schäden aufzudecken und zu bekämpfen. […] Ich nehme
die Folgen auf mich nach dem schönen Wort Johann
Gottlieb Fichtes:
Und handeln sollst du so, als hinge,
Von dir und deinem Tun allein,
Das Schicksal ab der deutschen Dinge,
Und die Verantwortung wär’ Dein.“
Auch am Beispiel des „Eisenberger Kreises“ zeigt sich, dass
mit der Aufwertung des Widerstands der Weißen Rose zum
kulturpolitischen und nationalen Leitbild in der SBZ und
frühen DDR eine Vorbildhaftigkeit etabliert wurde, die im
Rausch ideologischer Verblendung einer antifaschistischen
Agitation für ihre Verfechter wohl nicht absehbar war,
gleichzeitig aber bei der jungen Generation zu einer tief-
sitzenden Verpflichtung zum Widerspruch führte, die sich
im Widerstand äußerte und dabei zur Rechtfertigung des
eigenen Handelns sich auf die Geschwister Scholl berief.
Thomas Mann „Achtung Europa!“ (Titelseite)
Quelle:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Thomas_Mann_Achtung,_
Europa!_1938.jpg [Stand: 22.09.2016]