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Rezeption der Weißen Rose in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR

Einsichten und Perspektiven 3 | 16

„Nadelstiche“ gegen erkanntes Unrecht

Schließlich wurde die Versendung der Flugblät-

ter zum 4. November 1957 nicht umgesetzt:

Das Vorlesungsverzeichnis der Universität Halle

konnte nicht organisiert werden und Material-

beschaffung, Druck sowie Kuvertierung waren

aufwendiger als zunächst erwartet. Als trotz Vor-

sorge die Fingerabdrücke eines Helfers auf den

Flugblättern zu sehen waren, wurde die Aktion

verschoben. Bereits seit Mai des Jahres standen

einige Mitglieder der Gruppe unter Beobach-

tung des MfS und die geplante Flugblattaktion

war dort ebenfalls bekannt. Zwischen Februar

und April 1958 wurden etwa 40 Jugendliche

verhaftet, nur wenige konnten sich nach West-

deutschland absetzen. Das Bezirksgericht Gera

verhängte noch im Oktober 1958 insgesamt

24 Urteile mit Haftstrafen zwischen anderthalb

und 15 Jahren. Insgesamt wurden 116 Jahre

Zuchthaus verteilt, davon erhielt Ammer 15

Jahre, Herrmann und Frömel 14 Jahre. Trotz

dieser faktischen Auflösung befürchtete die

Staatssicherheit der DDR noch Jahre später die

Fortführung des Kreises. Thomas Ammer wurde

am 14. August 1964 von Westdeutschland frei-

gekauft und noch bis 1989 vomMfS überwacht.

Mit sicherlich durchaus richtiger Einschät-

zung der Wirksamkeit des „Eisenberger Krei-

ses“ schrieb Thomas Ammer im Rückblick:

„Die tatsächlich durchgeführten Widerstands-

handlungen erscheinen aus heutiger Sicht als Nadelsti-

che.“ Das Entscheidende bei der Beurteilung des Wider-

stands sowohl gegen den Nationalsozialismus als auch

gegen die zweite deutsche Diktatur der DDR muss aber

weniger die unmittelbare Wirksamkeit, als vielmehr die

jeweilige Motivlage sein. 

47

Hierzu schrieb Ammer: „Der

Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime war

uns im Schulunterricht und teilweise auch im Elternhaus

intensiv nahegebracht und dabei die Einsicht vermittelt

worden, daß Anpassung an ein Unrechtsregime Mitver-

47 Patrick von zur Mühlen versucht abschließend eine vergleichende Wertung,

die aber in ihrem Urteil fraglich ist: „Die größte Ähnlichkeit hatte der ‚Eisen-

berger Kreis‘ zweifellos mit der ‚Weißen Rose‘, die ihm als historisches Vorbild

diente und auf die er sich z.B. in der gescheiterten Briefaktion an die mittel-

deutschen Hochschullehrer ausdrücklich berief. Anders als der Kreis der Ge-

schwister Scholl verfügte er über komplexere organisatorische Strukturen, die

ihm eine längere Überlebensdauer sicherten, wandte konsequentere konspi-

rative Techniken an, wogegen die Geschwister Scholl und ihre Freunde – dies

sei ohne jeden abwertenden Akzent gesagt – in ihrer vorwiegend moralischen

Motivation eher naiv waren“, vgl. ders. (wie Anm. 35), S. 228.

antwortung für dessen Verbrechen bedeuten kann. Den

Vorwurf, Möglichkeiten zumWiderstand gegen erkanntes

Unrecht nicht genutzt zu haben, wollten wir uns nicht

machen lassen.“ 

48

Damit wird das Phänomen der zweifachen Rezeption

der Weißen Rose in der SBZ und frühen DDR zwischen

verordneter Erinnerung und Vorbild zum Widerstand

noch einmal auf den Punkt gebracht: Denn

neben

oder

gerade

durch

die Ideologisierung des Widerstands der

Weißen Rose zur „antifaschistisch-demokratische Aufbau-

arbeit“ im ostdeutschen Unrechtsstaat wurde diese zum

tatsächlichen Leitbild einer Jugend, die sich aus einer his-

torisch-moralischen Verpflichtung heraus der entstehen-

den Diktatur in Ostdeutschland vehement widersetzte.

48 Ammer (wie Anm. 34) , S. 90f.

Flugblatt von Peter Hermann

Quelle: BStU-Kopie: MfS Ast. Gera AU 33/58 (AST GA, Bd. 8) S. 187.