aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 24-25

aviso 2 | 2014
Quintensprünge
Colloquium
aviso 2 | 2014
QUINTENSPRÜNGE
Colloquium
Alle Fotos dieses Artikels: Mit freundlicher Genehmigung von Klaus Hinrich Stahmer.
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aviso Interview
aviso:
Herr Stahmer, Sie setzen sich als Komponist intensiv den Einflüssen fremder Kultu-
ren aus. Wie ist es dazu gekommen? Immerhin haben Sie amAnfang Ihrer Laufbahn soMusik
im Stil von Paul Hindemith komponiert; Sie nennen Bartók und Berg als Ihre Vorbilder,
und bei einigen Ihrer älteren Stücke sind die Ähnlichkeiten mit der Musik von Penderecki,
Boulez oder Stockhausen unüberhörbar. Sie sind also als Komponist in der mitteleuropäi-
schen Musik aufgewachsen und beheimatet, und dennoch haben sich solche Anklänge seit
einer Reihe von Jahren immer mehr verflüchtigt.
Stahmer:
Wir leben in einer Gesellschaft, die vom Neben- und Miteinander unterschied-
licher Kulturen getragen wird. Da ist eurozentriertes Denken unangebracht. Wir reisen wie
die Weltmeister, sehen fern, mailen weltweit und googeln global. Sollte das nicht auch seine
Spuren in unseremDenken hinterlassen? Als ich anfing, Musik zu studieren, ging es noch um
Aufräumarbeiten in der geistig verwüsteten Landschaft, die uns vom Naziregime und vom
Krieg hinterlassen worden war. Da bin ich hineingewachsen. Ich habe das auch so empfun-
den und mich bereits als Schüler für die Kulturen und Sprachen unserer ehemaligen »Feinde«
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interessiert. Dabei war es kaum zu vermeiden, dass ich auch in das Fahrwasser von Adorno
gelangte, dessen Sicht des Neuen in der Musik mein Denken dann ziemlich lange blockieren
sollte. Doch allmählich wuchs in mir das Gefühl, das sei alles viel zu eng. Besonders unwohl
fühlte ich mich im Umkreis der sogenannten »Avantgarde« und war froh, durch die IGNM
(=Internationale Gesellschaft für Neue Musik, Anm. d. Red.) Kontakt zu anderen Erdteilen
und Musikauffassungen aufnehmen zu können. Mit einem Mal interessierten mich musik­
ethnologische CDs mehr als all die technologischen Spitzfindigkeiten im Ton-»Material«.
Ich war einem Musik-Machen auf der Spur, das noch nicht von der westlichen Zivilisation
beschädigt worden war.
aviso:
Können Sie sagen, wann das passierte?
Stahmer:
Genau genommen habe ich schon immer zweigleisig gedacht. Eine meiner ersten
Langspielplatten mit 33 Umdrehungen, die ich als Schüler besaß, war japanische Gagaku-
Musik, diese uralte Hofmusik, die mich mit ihrer klanglichen Strenge und Statik innerlich
verfolgt hat. Dann kamen weitere Platten hinzu, und nach Erfindung der CDs unzählige Sil-
berscheibenmit Musik afrikanischer Trommler, indianischer Flötenspieler und tibetanischer
Mönche. Ich kaufte alles, was ich finden konnte: Pygmäengesänge, Didgeridoo-begleitete
Rituale, japanische Tempelmusik, undundund…
aviso:
Das heißt, sie haben Sie sich von der Tonsprache der westlichen »Avantgarde«
losgesagt. Wie hat man sich das konkret vorzustellen: Schreiben Sie jetzt beispielsweise im
Stil chinesischer Musiker?
Stahmer:
Lassen Sie mich konkret hierzu Folgendes sagen: Im alten China wurde und in
der Volksmusik wird auch heute noch nach modalen Skalen musiziert, was sich am ehesten
nachvollziehen lässt, wenn man es mit den Vorstellungen vergleicht, die im alten Griechen-
land entwickelt worden waren. Genau darauf habe ich mich eingelassen, auch um den Preis,
dass ich auf manche Errungenschaft der westlichen Musik verzichte, zum Beispiel auf die
temperierte chromatische Skala. Ich kann und will nicht mehr wie Wagner von jeder Tonart
in jede andere x-beliebige Tonart modulieren. Dafür nehme ich in Kauf, dass mir nicht mehr
alle 12 Töne zu Gebote stehen. Das ist eine Einschränkung, aber zugleich habe ich neue Pers­
pektiven gewonnen, indem sich ein Gefühl für feinere Unterschiede einstellt. Jeder dieser
Modi hat nämlich seinen unverwechselbaren Charakter. Und dann setze ich zum nächsten
Schritt an, indem ich eigene Modi erfinde…
aviso:
… das heißt, Sie schaffen eine Brücke zwischen chinesischer und westlicher Tradition?
Stahmer:
Oh ja, ich habe doch nicht das Ziel, Musik »im Stile von« zu schreiben. Diese
chinesischen Modi sind für mich nur ein Modell. Ich fühle mich zwar in die Klänge und
links
Musik von Klaus Hinrich Stahmer nach
afrikanischen, fernöstlichen und australischen
Vorbildern auf CDs.
FREMD IN DER HEIMAT – VERWURZELT IN DER FREMDE
Der Komponist Klaus Hinrich Stahmer
im Dialog mit der außereuropäischen Klangwelt
rechts
Die arabische Zither Qanun.
1...,4-5,6-7,8-9,10-11,12-13,14-15,16-17,18-19,20-21,22-23 26-27,28-29,30-31,32-33,34-35,36-37,38-39,40-41,42-43,44-45,...52
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