aviso 2 | 2014
QUINTENSPRÜNGE
WERKSTATT
aviso 2 | 2014
QUINTENSPRÜNGE
WERKSTATT
©
Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen | Jan Radon Software
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Text:
Johanna Leissner, Ralf Kilian, Constanze Fuhrmann und Florian Antretter, Tina Naumovic, Klaus Häfner und Katrin Janis
Unser bauliches Kulturerbe
ist in
besonderer Weise von den Auswirkungen des
Klimawandels betroffen. Denn viel stärker als
in der Vergangenheit besteht die Gefahr, dass es
durch rasant fortschreitende Korrosionsprozesse
angegriffen wird. Korrosion stellte zwar schon
immer eine Gefahr für Materialien aller Art wie auch
für die Substanz historischer Gebäude dar. Aber
mit dem prognostizierten weltweiten Anstieg der
Umgebungstemperaturen nehmen die chemischen
Reaktionen, die für solche zersetzenden Prozesse
verantwortlich sind, an Fahrt auf. Dem liegt die
exponentielle Arrhenius-Beziehung zwischen Reak
tionsgeschwindigkeit und Temperatur zugrunde:
Bei einem Temperaturanstieg um 10 Grad verdop-
peln derartige Reaktionen ihre Zerstörungskraft.
Doch nicht nur die Korrosionsgefahr baulicher Substanz nimmt mit dem
Klimawandel zu. In Küstennähe, besonders in den Niederlanden, wächst
die Bedrohung durch einen steigenden Meeresspiegel. Allgemein steigt
das Risiko, dass Bauten in ihrer Struktur oder an ihrer Außenseite von
Überflutungen, Stürmen oder Starkregen schwerer geschädigt werden
als bisher. Vor allem imnördlichen Europa erhöht sich damit die Gefahr
von Schimmelpilzwachstum.
Schimmelbildung durch Touristen
Mit welchen Strategien kann es nun gelingen, die zunehmende Zer-
störungsgefahr abzuwenden? Und: Was wird es uns kosten, wenn wir
nicht rechtzeitig auf den Klimawandel reagieren? Das sind die zentra-
len Fragen des Forschungsprojekts »Climate for Culture«, welches mit
5 Millionen Euro maßgeblich von der Europäischen Union gefördert
wird, um erstmals den Zusammenhang zwischen Klima- und Gebäude-
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Simulationsmodellen herzustellen. Denn hochaufgelöste
Klimamodelle für einige Regionen einerseits und hygrother-
mische Gebäudemodelle andererseits, mit denen die Auswir-
kungen von Wärme, Feuchtigkeit und Wasserdampf auf die
Bausubstanz erfasst werden können, sind zwar verfügbar – aber
sie existierten bislang unverbunden nebeneinander.
Zum Beispiel lässt
sich in hygrothermischen Simulatio
nen abbilden, wie Tausende von Touristen bei ihrem Besuch
in den bayerischen Königsschlössern von Ludwig II. Feuch-
tigkeit in die Gebäude einbringen und auf diese Weise zu
deren Gefährdung durch mögliche Schimmelbildung beitra-
gen. In der Koppelung mit einem hochaufgelösten Klima-
modell können die Wissenschaftler nun die Veränderungen
durch den Feuchtigkeitseintrag generieren, der im Zuge des
Klimawandels zu erwarten ist.
Das Mikroklima in Neuschwanstein
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat das multidisziplinäre Team
von Chemikern, Physikern, Meteorologen, Ozeanografen,
Restauratoren, IT-Spezialisten, Wirtschaftswissenschaftlern,
Kunsthistorikern und Biologen schon nachweisen können, dass
es wie geplant möglich ist, Klimamodellierung und Gebäude-
simulationsmodelle miteinander zu verbinden – und dass so
Trends in der Entwicklung der Mikroklimata in Gebäuden bis
zum Jahr 2100 vorhergesagt werden können. Dieser Erfolg
weist weit über die unmittelbaren Projektziele hinaus, denn
die Methode lässt sich künftig auf Gebäude aller Art anwen-
den. Während der fünfjährigen Laufzeit des Projekts stehen
von 2009 bis 2014 über 120 ausgewählte historische Gebäude
vonWeltrang in Europa wie die bayerischen Königsschlösser,
das Schloss Schönbrunn in Wien oder die Stadt Venedig bei-
spielhaft imZentrumder wissenschaftlichen Untersuchungen.
Das Raumklima in
historischen Gebäuden ist für die
Erhaltung von Ausstattung und Sammlungsgut von zentraler
Bedeutung. Denn durch ein ungünstiges Klima, beispielsweise
durch zu hohe Feuchte oder durch starke Schwankungen,
werden Kunstwerke schleichend zerstört. Konservatorische
Untersuchungen im Königshaus auf dem Schachen und in
Schloss Linderhof belegen einen deutlichen Zusammenhang
zwischen Raumklima und Erhaltung wertvoller historischer
Oberflächen. Beide Gebäude wurden von König Ludwig II.
erbaut, stammen somit aus der gleichen Zeit und weisen ver-
gleichbare künstlerische Techniken und Ausstattung auf. Das
für Besucher nur für vier Monate im Jahr zugängliche Königs-
haus auf dem Schachen ist trotz des rauen Bergklimas deut-
lich besser erhalten als Schloss Linderhof, das bis zu 500000
Besuche pro Jahr zählt. Dieser Befund bestätigt, dass ein
oben
Das Königshaus am Schachen.
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DigiChart Software zur Umwandlung analoger in digitale Daten.
darüber
Analoger Thermohygrograph.
Wie der Klimawandel
die Königsschlösser bedroht
Ergebnisse des europäischen Forschungsprojekts »Climate for Culture«