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aviso 2 | 2016
FREMDE, IN DER FREMDE
COLLOQUIUM
Im Europa des
20. Jahrhunderts standen die erschütternden
Formen der Migration im Vordergrund, darunter die Vertrei
bung vieler jüdischer Intellektueller und moderner Künstler
durch Nationalsozialismus und Stalinismus sowie die großen
Verwerfungen durch Krieg, Flucht und Umsiedlung, wie sie
heute wieder virulent sind.
Angesichts solcher erzwungenen Auswanderungen sind andere
Formen der Migration in Vergessenheit geraten, die weniger
dramatisch verlaufen sind und oft sogar freiwillig waren, aber
auch eine große politische Bedeutung hatten, nämlich für die
Herausbildung eines europäischen Bewusstseins.
Europa vor Europa
Dazu gehört die Migration, die im 19. Jahrhundert die Ausbil
dung von Künstlern und Architekten prägte, ihreWanderjahre,
die sie über viele Grenzen hinweg in Zentren von europaweiter
Ausstrahlung führten, nach Rom, nach Paris und nicht zuletzt
auch nach München. War es bis zum 18. Jahrhundert weitge
hend den Mitgliedern der Aristokratie vorbehalten gewesen,
sich auf einer Grand Tour die künstlerischen und landschaft
lichen Attraktionen Europas anzusehen, so stellte im 19. Jahr
hundert das Bürgertum einen wachsenden Anteil unter jenen,
die ihrer Kunstausbildung wegen an die bedeutendsten Aka
demien in Paris, Düsseldorf undMünchen strömten. Daneben
blieben Italien und Griechenland weiterhin herausragende At
traktionen der Bildungsmigration, allerdings nicht wegen ihrer
Akademien, sondern weil hier die Vorbilder des Klassizismus
im Original zu studieren waren.
So war der
begehrteste Preis der Pariser École des Beaux-Arts
der Prix de Rome, der es den geförderten Künstlern erlaubte,
sich jahrelang in der Villa Medici aufzuhalten, um den gerin
gen Preis, ein paar Kopien für die Sammlungen französischer
Museen wieder mit nach Hause zu bringen. Daneben wur
den herausragende Studenten auf die archäologischen Fund
stätten in Griechenland und Italien entsandt, um in hand
werklich großartigen Aquarellen aus penibel vermessenen
Bestandsaufnahmen der Ruinen ihre Visionen eines glänzenden
Ursprungszustandes zu entwickeln.
Damals war die Antike die mythische Herkunftslandschaft
Europas, nicht zuletzt Athen, und der Klassizismus die europäi
sche Sprache der Kunst. Sie bildeten die grenzübergreifende
Grundlage eines emphatischen Selbstverständnisses der kul
turellen und politischen Eliten Europas – was nicht ausschloss,
dass weiterhin Kriege geführt wurden, denn von kaum etwas
anderem berichtet ja auch die antike Literatur so viel. Und es
waren auch nicht die Kriege allein, welche die dunkle Seite des
europäischen Klassizismus ausmachten, sondern vor allemdie
Sklaverei, für die man sich ebenfalls auf die Antike berufen
konnte, freilich für einen nunmehr weltweiten Menschenhan
del in global organisierter Verschleppung.
Dagegen schrieb die
Binnenmigration Europas ein glückliches
Kapitel der Geschichte, als die Grand Tour des 18. und die
künstlerische Bildungsmigration des 19. Jahrhunderts für die
Herausbildung eines europäischen Bewusstseins sorgten, dem
der Klassizismus eine genuin europäische Kunstsprache lieferte.
DieseMigration war allerdings auch unvermeidlich, weil Kunst
bücher noch eine Seltenheit und ihre Illustrationen, falls über
haupt vorhanden, nicht fotografisch waren. Zudemhatten die
meisten europäischen Ländern noch keine eigenen Akademien,
die dort erst später von Rückkehrern aus Paris oder München
gegründet wurden. Die antiken Fundstätten, die Museen und
Akademien boten daher europäische Identifikationsorte in
einer Intensität, die sich heute kaum mehr nachvollziehen
lässt.
Die künstlerische Bildungsmigration des 19. Jahrhunderts
Text:
Walter Grasskamp
Europa
vor
Europa