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Die Interviews

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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15

„Jetzt bringen sie uns zu der Gestapo.“

Der Zug fuhr dann auch tatsächlich los, aber der hat

natürlich auch ab und zu angehalten und jedes Mal

wurde auch kontrolliert. Die sind dann an den Zügen

entlanggelaufen mit den Hunden. Und in dem Zug, wo

wir saßen, also in dem Waggon, da gab es auch so kleine

Bänke, aber hauptsächlich Holz, was eben zum Heizen

verwendet wurde. Zum Heizen für den Zug und wahr-

scheinlich auch zum Antrieb – würde ich mal denken,

weiß ich nicht genau.

Wir waren in diesemWaggon und dann kam auch wirk-

lich eine Kontrolle. Und das war ein Italiener, der Deutsch

konnte. Und er hat gesagt: „Wartet ab, bald kommen wir

zum Brenner.“ Und dann waren wir tatsächlich dort oben.

Die italienische Polizei holte uns raus und wir dachten:

„Jetzt bringen sie uns zu der Gestapo.“ Weil Italien war ja

ein Verbündeter Deutschlands.

Wir sind also mit den italienischen Polizisten weiterge-

laufen und dann war dort auch schon das Schild mit der

Aufschrift „Gestapo“. Aber wir sind mit denen an dem

Gebäude vorbeigegangen und stattdessen wurden wir zu

dem Bürgermeister von der Stadt gebracht. Dieser meinte:

„Ja, was mach ich denn jetzt mit euch? Naja, muss ich erst

mal in Rom fragen, was ich mit euch machen soll.“ Wir

wurden daraufhin ins Gefängnis gesteckt, das von einer

unheimlich netten italienischen Familie geführt wurde.

Wir wurden dort wie Freunde aufgenommen.

Aus irgendwelchen Gründen kamen wir dann nach

Süditalien in ein offenes Lager. Wir durften dort auch

rausgehen zum Arbeiten und viele Familien waren dort

untergebracht, vor allem aus der Tschechoslowakei und

Jugoslawien. Im Zuge der alliierten Invasion kam Ende

1943 eine Delegation aus Palästina nach Süditalien und

diese beschaffte mir die nötigen Papiere für die Über-

fahrt. Nach drei Tagen auf der „Stefan Batory“ hatte ich es

geschafft. Ein Traum wurde wahr!

Ein neues Leben

Als ich hier angekommen war, kümmerten sich viele Men-

schen um mich. Hier Abendessen, da Abendessen. Und

zufällig hat auch eine Cousine gehört, dass ein Verwand-

ter gekommen ist und sie hat mich dann mitgenommen.

Doch sie hatte schon ganz viele Kinder, denn die Familie

war sehr religiös. Und nach ein paar Monaten wusste ich,

hier kann ich nicht bleiben. Ich suchte Arbeit, es war aber

ganz schwierig, überhaupt etwas zu finden. Und durch

großes Glück eben ist jemand auf mich aufmerksam

geworden, ein belgischer Jude, der auch geflüchtet war.

Und er hat mich dann gelehrt, Diamantschleifer zu wer-

den. Das ist ein sehr hoch angesehener Beruf, bei dem

man sehr gute Hände haben muss.

Ich weiß heute, dass es einfach unheimlich wichtig ist,

zu sprechen

Das Wichtigste ist wirklich, die Sachen nicht zu vergessen

und immer wenn die Gelegenheit sich bietet, die anderen

daran zu erinnern, und vor allem wenn man es im Bauch

spürt, wie schwer das ist, dann kommen auch die richti-

gen Worte nach draußen und man verteidigt eben auch

andere. Es ist sehr schwierig, weil in Israel viele Holocaust-

Überlebende ihren Kindern gar nichts erzählt haben. Die

wussten gar nicht, wo ihre Eltern im Holocaust waren.

Aber im Wohnheim hier gibt es eben auch viele, die nicht

darüber gesprochen haben. Viele sind dann schließlich

doch bereit, die eben 50 Jahre nicht darüber gesprochen

haben, was echt eine Glanzleistung ist, das muss echt

Wahnsinn sein.

Ich möchte nochmal betonen, das ist natürlich eine

ganz andere Geschichte als von den Menschen, die eben

wirklich im Konzentrationslager waren. Es gibt ein Buch

mit Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden, die aus

den Lagern kamen, und das heißt „Wein nicht“. Ich kann

es gar nicht verstehen, dass man da überhaupt zwei Sätze

darin lesen kann, ohne zu weinen.

Ich weiß heute, dass es einfach unheimlich wichtig ist,

zu sprechen. Auch um an das Geschehene zu erinnern.

Und besonders in der Erziehung von Schülern – nicht nur

in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt.

Protokoll: Jessica Erli, Rowena Köhler, Alexandra Martyniak