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1 Lernen in jahrgangsgemischten Klassen
(Prof. Dr. Andreas Hartinger)
Worin besteht der Mehrwert? Dieser Frage muss
sich aktuell jede Form von Unterricht stellen, seit
sich in den letzten Jahrzehnten die Diskussion um
guten Unterricht verändert hat: Während früher
v. a. gefragt wurde, ob die Grundidee des Unter-
richts gut ist, wird aktuell verstärkt überprüft, ob
sich empirisch positive Ergebnisse nachweisen
lassen. Solche Ergebnisse können die Lernleis-
tungen der Schülerinnen und Schüler sein. Zu
betrachten sind aber auch motivationale Effekte
oder die soziale Entwicklung der Kinder.
Für Innovationen im Schulwesen ist dies von
besonderer Bedeutung. Sie müssen sich an ih-
ren Ergebnissen messen lassen. Dies gilt auch für
das jahrgangsgemischte Lernen. Die Frage, der
in diesem Beitrag nachgegangen werden soll, ist
daher: Was bringt das Lernen in jahrgangsge-
mischten Klassen? Welche Erwartungen verbin-
den sich damit und inwieweit gibt es Evidenzen
dafür, dass sie erfüllt werden. Diese Ergebnisse
werden dann in Bezug zum Modellversuch Flexi-
ble Grundschule gesetzt.
1.1 Zum Einsatz jahrgangs
gemischten Lernens
Das Lernen in jahrgangsgemischten Lerngrup-
pen ist keine Erfindung der Neuzeit. So war es
bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts
v. a. in Dörfern aus organisatorischen Gründen
üblich, dass Kinder unterschiedlichen Alters in
einem Klassenzimmer unterrichtet wurden. Und
auch die Jahrgangsmischung aus pädagogischen
Gründen ist nichts Neues. In einigen reformpä-
dagogischen Unterrichtskonzepten ist sie ein
zentrales Merkmal (wie z.B. in Jenaplan- oder in
Montessori-Schulen).
Die Überlegungen zur Jahrgangsmischung,
die in den letzten ca. 20 Jahren in Deutschland
durchgeführt wurden, fokussieren zumeist auf die
Schuleingangsphase
1
. Gleiches gilt auch für den
Modellversuch Flexible Grundschule in Bayern.
Aus diesem Grund werden sich die folgenden Aus-
führungen vorrangig auf die Jahrgangsmischung
in den ersten beiden Schulbesuchsjahren bezie-
hen – auch werden die organisatorischen Gründe
(wie z.B. die Möglichkeit, kleine Schulstandorte
zu erhalten oder durch angepasste Klassengrö-
ßen die vorhandenen Lehrerstunden effektiver zu
nutzen) hier nicht weiter behandelt.
Ein zentrales Merkmal der jahrgangsgemischten
Schuleingangsstufe ist, dass die ohnehin immer
vorhandene Heterogenität der Schülerinnen und
Schüler noch zusätzlich organisatorisch verstärkt
wird, indem der Gruppe der schulerfahrenen, äl-
teren Kinder eine Gruppe von Schulanfängerinnen
und Schulanfängern hinzugefügt wird. Der kon-
sequente Anspruch ist damit, die Heterogenität in
den Lernausgangslagen der Kinder eben nicht re-
duzieren, sondern sie produktiv nutzen zu wollen.
Kernidee ist „optimale individuelle Förderung bei
gleichzeitiger Akzeptanz, Pflege und Wertschät-
zung von Heterogenität zu betreiben“
2
.
1.2 Pädagogische Erwartungen
Die pädagogischen Erwartungen, die mit dem
jahrgangsgemischten Lernen verbunden sind,
betreffen zum einen soziale, zum anderen aber
auch kognitive Ziele.
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Erwartungen hinsichtlich der sozial-
emotionalen Entwicklung
So wird bezüglich der sozialen Entwicklung z.B.
argumentiert, dass Schülerinnen und Schüler bes-
ser lernen, sich gegenseitig zu helfen, da mehr
Hilfesituationen entstehen (wenn z.B. die Kinder
des zweiten Schulbesuchsjahres als „Paten“ für
die jüngeren zur Verfügung stehen). Zugleich sei
zu erwarten, dass die Unterstützung in diesen
Situationen weniger mit sozialer Abwertung ver-
bunden ist als bei Gleichaltrigen. In dem Zusam-
menhang wird insgesamt erhofft, dass sich Rol-
len- und Sozialstrukturen aufweichen sowie dass
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