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1 Heterogenität als Herausforderung und Chance
(Prof. Dr. Angelika Speck-Hamdan)
Seit ihrer Gründung in der Weimarer Republik
ist die Grundschule ihrer Idee nach eine Schule
für alle Kinder. Damit ist ihr die Aufgabe, Ver-
schiedenheit in Gemeinschaft zu gestalten, so-
zusagen in die Wiege gelegt worden. Sie hat sie
im Lauf der etwa hundert Jahre ihres Bestehens
in unterschiedlicher Weise umgesetzt, wobei sich
sicherlich unter anderem der gesellschaftliche
Konsens hinsichtlich der Ziele von Erziehung und
Bildung wie auch die Realisierbarkeit individuell
unterschiedlicher Lebensentwürfe beeinflussend
ausgewirkt haben. Mit zunehmender Diversi-
fizierung in allen gesellschaftlichen Bereichen
hat diese Aufgabe eine besondere Bedeutung
erhalten. „Heterogenität ist zu einem zentralen
Merkmal der Moderne geworden, und dies wird
im Bildungswesen so sichtbar wie in kaum einem
anderen Bereich des öffentlichen Lebens.“
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Das
bedeutet, dass sich in einer Institution, die grund-
sätzlich alle Kinder aufnimmt, auch die gesamte
Heterogenität der Gesellschaft widerspiegelt. Ge-
koppelt mit dem in der Verfassung festgeschrie-
benen Bildungsanspruch jedes Kindes ergibt sich
daraus eine nicht zu unterschätzende Herausfor-
derung. Um sie zu meistern und auch die darin
liegenden Chancen zu entdecken, bedarf es eines
fruchtbaren Zusammenwirkens von Bildungspoli-
tik, Bildungsforschung und Bildungspraxis. Mit der
Einrichtung der Flexiblen Grundschule in Bayern
ist ein solcher Versuch unternommen worden.
1.1 Heterogenität als Leitbegriff
Heterogenität hat sich in den letzten Jahren zu
einem der Leitbegriffe in der Bildungsdiskussion
entwickelt. Dabei ist er durchaus nicht eindeu-
tig zu fassen. Häufig wird er in Opposition ge-
setzt, um den Blick auf einen spezifischen Aspekt
zu schärfen. Dabei wechseln die Oppositionsbe-
griffe. So öffnet das Gegensatzpaar Vielfalt – Ein-
heitlichkeit einen gänzlich anderen Denkraum als
das Gegensatzpaar Unterschiedlichkeit – Norma-
lität. Trautmann und Wischer (2011) resümieren
in einer gründlichen, kritischen Analyse: „Kurz:
Heterogenität ist ein in historischer, theoretischer
und empirischer Hinsicht relatives Konstrukt, das
in engem Zusammenhang zu weiteren Begriffen
wie Homogenität, Einheit und Differenz /Unter-
schiedlichkeit, Vielfalt, Ungleichheit und Normali-
tät steht.“
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Je nach Perspektive verschieben sich
denn auch die Konnotationen des Begriffs.
Sturm (2013) gibt dem Heterogenitätsbegriff
eine sozial-konstruktivistische Rahmung und stellt
vor allem den Aspekt des Vergleichs heraus, durch
den Heterogenität erst wahrgenommen wird.
Dieser sei nicht ohne die Einbindung in soziale
und kulturelle Kontexte denkbar; d. h. bestimmte
Unterschiede erlangten nur in bestimmten Kon-
texten überhaupt ihre Bedeutung. Heterogenität
und Homogenität seien in diesem Sinn Konstruk-
tionen auf der Basis von Erfahrungen. „Als solche
wirken sie zugleich distinktiv, da Differenzen und
Unterschiede durch sie sichtbar werden, und kon-
junktiv, weil durch sie Gemeinsamkeit erkennbar
wird. Abgrenzungen gegenüber anderem und Zu-
gehörigkeit zu Eigenem bzw. zu Gleichem sind
zwei Seiten von Differenzkonstruktionen.“
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Bei
der Beschreibung von Differenzen muss also der
Raum, in dem diese Bedeutung erlangen, stets
mitgedacht werden. Außerdem spielt die Gebun-
denheit an die Wahrnehmung eine nicht zu unter-
schätzende Rolle.
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Diese Überlegungen sind insofern bedeutsam,
als sie die Relativität dessen unterstreichen, was
als Unterschiedlichkeit wahrgenommen wird und
somit alle Einteilungen, die aufgrund dieser Un-
terschiede vorgenommen werden, grundsätzlich
als konstruiert charakterisieren. Es lohnt sich da-
her, gewohnte Unterscheidungen neu zu reflek-
tieren und danach zu fragen, welche Bedeutung
sie im jeweiligen Kontext haben.
Heterogenität im Kontext von Bildungs
fragen
Heterogenität erlangt im Zusammenhang mit
Bildungsfragen vor allem dadurch Bedeutung,
dass auf der einen Seite die Nutzung von Bil-
dungsangeboten an Voraussetzungen gebunden
III 1 Heterogenität als Herausforderung und Chance