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aviso 2 | 2016

FREMDE, IN DER FREMDE

WERKSTATT

Text:

Axel Monte

VON JUDEN, NEGERN UND ÜBERSETZERN

POLITICAL CORRECTNESS ODER

KULTURELLE HÖFLICHKEIT ALS GRATWANDERUNG

ALS DER OETINGER VERLAG

sich 2009 entschloss, in neuen

Auflagen von

Pippi Langstrumpf

einWort wie »Negerkönig«

durch »Südseekönig« zu ersetzen, löste die Frage, wie das

zu beurteilen sei, eine Diskussion aus, deren Aufgeregtheit

erstaunen lässt. Sehr häufig standen sich die Vertreter zweier

extremer Positionen gegenüber. Zum einen die Ideologen einer

Political Correctness, zum anderen jene, die aus einem Res­

sentiment heraus gerade die politisch Korrekten mit Häme

überziehen und für die ein guter Mensch (»Gutmensch«)

etwas Verachtenswertes ist. Da allein schon der Begriff »Poli­

tical Correctness« so ein rotes Tuch zu sein scheint, sollte man

vielleicht lieber wie Elmar Holenstein von »Cultural Polite­

ness« sprechen. In seinem Artikel »Kulturelle Höflichkeit«

schreibt er: »Es gibt im Deutschen noch eine ganze Reihe

abschätziger ethnischer Bezeichnungen, die sich nicht gerade

vornehm anhören, weder für diejenigen, auf die sie angewandt

werden, noch für diejenigen, die sie verwenden. Anstelle von

Hottentotten

und

Buschmännern

hat sich in der angloame­

rikanisch dominierten wissenschaftlichen Literatur

Khoisan

durchgesetzt.« Und vergessen wir nicht, dass sich vieles still

und leise imLaufe der Zeit von selbst erledigt. So ist das Wort

»Australneger« inzwischen aus unserem Sprachgebrauch so

gut wie verschwunden und die Bezeichnung »Aboriginies«

für uns normal geworden, ohne dass sich irgendjemand groß

darüber aufgeregt hätte.

Fagin zum Ersten

Ich muss gestehen, die Diskussion nur am Rande verfolgt zu

haben, als ich um diese Zeit herum für die Reclam Biblio­

thek an einer Neuübersetzung von

Oliver Twist

arbeitete. In

Dickens’ Roman ist es nun kein Neger, über denman stolpert,

sondern ein Jude. Nicht weil er Jude ist, stolpert man, son­

dern wegen der Art und Weise, wie er als solcher charakteri­

siert wird. Schon der erste Auftritt des Schurken Fagin gerät

wenig schmeichelhaft, antisemitische Stereotypen (verfilzte

Haare, kaftanartiges Gewand) klingen bei der Beschreibung

durch und werden nachdrücklich verstärkt durch die dazuge­

hörige Illustration von George Cruikshank, auf der auch die

angeblich »typische jüdische« Nase zu sehen ist: »In einer

Bratpfanne, die mit einer Schnur am Kaminsims befestigt

war, brutzelten über demFeuer ein paar Würstchen, und dar­

über gebeugt stand, mit einer Röstgabel in der Hand, ein sehr

alter runzliger Jude, dessen abstoßendes Schurkengesicht

hinter einem Gewirr verfilzter roter Haare verschwand. Er

war mit einem schmierigen Flanellgewand ohne Kragen

bekleidet und schien seine Aufmerksamkeit zwischen der Brat­

pfanne und einemWäscheständer, an dem eine große Anzahl

seidener Schnupftücher hing, zu teilen.« Sein Kumpan, der

brutale Einbrecher Bill Sikes, zeichnet dann etwas später in

wenigen Sätzen ein unmissverständliches Bild von Fagins

Charakter: »›He, was zum Teufel ist hier los?‹ knurrte eine

tiefe Stimme. ›Wer schmeißt da nach mir? Zum Glück hab

ich nur das Bier und nich den Krug abgekriegt, sonst hätt

ich jetzt jemand vertrimmt. Hätt ich ja wissen können, dass

nur’n verfluchter, reicher, diebischer und verlogener alter Jude

sich leisten kann, auch’n anderes Getränk als Wasser weg­

zuschütten, wo er obendrein seine Wasserrechnung eh nie

bezahlt.‹« Und kurz darauf fährt Sikes fort: »›Was treibst

du hier? Die Jungs piesacken, du lüsterner, habgieriger, un-

er-sätt-li-cher alter Hehler?‹, sagte der Mann und setzte sich

gemächlich hin.«

DAS NAHM ICH

zum Anlass, mich ein wenig mit Dickens’

Verhältnis zu den Juden und mit der diesbezüglichen

Rezeptionsgeschichte von

Oliver Twist

zu beschäftigen und

imNachwort zu schreiben: »Geradezu erschreckend auf den

heutigen Leser wirken die antisemitischen Stereotype, die

Dickens verwendet hat, um möglichst nachdrücklich die

Gestalt eines ›stage jew‹, eines Bühnenjuden, zu zeichnen, etwa

nach Art des Shakespeareschen Shylock.« Zudem zeige ich die

Veränderung auf, die Dickens’ Haltung bei seiner Darstellung

von Juden erfährt, von einer unbewussten, in der damaligen

Zeit fraglos akzeptierten negativen, zu einer bewussten, für

die Problematik sensibilisiertenHaltung. Dabei erläutere ich

zugleichmeine Entscheidung, in der Übersetzung auf die Cha­

rakterisierung einer Person als »Jude« zu verzichten: »Als in

den Jahren 1867/68 eine neue Ausgabe seiner Werke erscheint,

streicht Dickens in

Oliver Twist

an zahlreichen Stellen das

Wort ›Jude‹ und ersetzt es durch ›Fagin‹. Auch in den Texten,

die er für seine berühmten szenischen Lesungen bearbeitet

hat, fungiert Fagin lediglich als ›Hehler‹.

Die vorliegende Übersetzung, die sich ansonsten nach der

Ausgabe von 1846 richtet, der letzten, die Dickens grundle­

gend überarbeitet hat und die daher als die maßgebliche gilt,

folgt ihm in dieser späteren Streichung und verzichtet kom­

plett auf die Charakterisierung einer Person als Jude, ohne

dass dadurch das Verständnis der Geschichte im geringsten

beeinträchtigt würde. Hierin liegt auch der entscheidende

Unterschied zu Mark Twains

Huckleberry Finn

, von dem

immer wieder einmal Ausgaben erscheinen, in denen dasWort

›Nigger‹ getilgt wurde. In

Huckleberry Finn

ist Rassismus

jedoch eines der zentralen Themen, während das Thema Anti­

semitismus in

Oliver Twist

keinerlei Rolle spielt. Neben Fagin

sind von dieser Änderung noch der Wirtsbursche Barney und

ein namenloser Kleidertrödler betroffen. Der Grund dafür

liegt keinesfalls in einer ideologischen Political Correctness,