Professor Dr. Walter Grasskamp
ist Ordinarius für Kunstgeschichte
an der Akademie der Bildenden Künste in München und Mitglied der Baye-
rischen Akademie der Schönen Künste.
Zum Weiterlesen
Wolfgang Kehr: Die Akademie der Bildenden Künste München –
Kreuzpunkt europäischer Kultur, München 1990.
Nikolaus Gerhart/Walter Grasskamp/Florian Matzner (Hrsg.): 200 Jahre
Akademie der Bildenden Künste München, München 2008.
Monika Flacke: Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama,
München/Berlin 1998.
der Kriege, Pogrome und Revolutionen im Osten Europas erhielt dieses
Milieu großen Zulauf durch viele Emigranten, und neben Paris undMün
chen wurde nun auch Berlin zu einer Hauptstadt des kulturellen Europa.
Es war genau dieses Milieu, das Hitler dann mit einem geschickt ausge
spielten Populismus als Kosmopolitismus diffamierte und in die Emigra
tion zwang, allerdings mit unvorhersehbaren Ergebnissen. Da für viele der
sozusagen ästhetischen Flüchtlinge der Weg schließlich in die USA führte,
trug die Emigration maßgeblich dazu bei, die moderne Kunst internatio
nal durchzusetzen, die Hitler national besiegen zu können geglaubt hatte.
Europa nach Europa
In der Nachkriegszeit wurde diese moderne Kunst aus der Emigration
reimportiert und rehabilitiert, wenn auch nur in der westlichen Hälfte
Europas. Dort kam ihr als ästhetischemSynonymdes FreienWestens eine
enorme kulturpolitische Bedeutung zu, nicht zuletzt auch die einer neuen
europäischen Kunstsprache. Allerdings verlor die Nachkriegsmoderne
schon vor Ende des 20. Jahrhunderts jene prägende Kraft, wie sie einst
der Antike eigen gewesen war, nämlich als Bezugswert eines gemeinsa
men kulturellen Selbstverständnisses dienen zu können. Dafür war nicht
zuletzt der Einbruch der Popkultur verantwortlich, die als kultureller
Ausdruck einer neuen Konsumentenidentität und als Amerikanisierung
Westeuropas empfunden wurde.
Geblieben ist dagegen
ein anderes Erbe der Nachkriegszeit, nämlich statt
des ästhetischen ein ethisches Selbstverständnis Westeuropas, das aus
den beiden Weltkriegen moralische Konsequenzen gezogen hatte und
nun ein Asylrecht ebenso in seinen Gesetzen verankerte wie eines zur
Kriegsdienstverweigerung, Toleranz als zivilisatorische Haltung normierte
und schließlich sogar, im Schengener Abkommen, die Aufhebung der
rituellen Ausweispflicht an den Staatsgrenzen verfügte.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhanges und der Einbeziehung ehemals
kommunistischer Staaten in die EU hat man erwartet, dass sich dort
automatisch auch diese Werte der westlichen Nachkriegsgesellschaft
ausbreiten würden. Dieses Europa steht aber heute auf dem Prüfstand
angesichts der Migration aus einem Mittelmeerraum, dem die Antike
einst viele prägende Einflüsse verdankt hatte, die ja im heutigen Sinne
nie rein europäisch gewesen war – die mythische Europa ist historisch
korrekt aus Kleinasien entführt worden, aus der Levante!
Wie im 19. Jahrhundert
das Europa des Klassizismus in nationale Kunst
mythen konvertiert wurde, so bewirkt die Migrationswelle aus demMit
telmeerraum nun erneut eine unvorhergesehene Re-Nationalisierung
Europas, und es sieht so aus, als ob dem»Arabischen Frühling« der Herbst
Europas folgen könnte.
Abbildungen: Akademie der Bildenden Künste München | Privat
oben
Blick in die Ausstellung
zum Akademiejubiläum 2008 im
Münchner Haus der Kunst,
mit (von links) Gemälden von Karl
von Piloty, seinem ungarischen
Schüler Gyula Benczúr und sei-
nem amerikanischen Schüler Karl
von Marr sowie Carl Schorn.
Im Vordergrund eine Plastik von
Karl Fred Dahmen.
darunter
Entführung der Europa,
Wandfresko aus Pompeji.
unten
Umschlag des von Monika
Flacke herausgegebenen
Buches »Mythen der Nationen«,
München/Berlin 1998.
aviso 2 | 2016
FREMDE, IN DER FREMDE
COLLOQUIUM
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