Table of Contents Table of Contents
Previous Page  21 / 52 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 21 / 52 Next Page
Page Background

|21 |

aviso 1 | 2015

DIGITALE WELTEN

COLLOQUIUM

JEDER VON UNS

beobachtet gerne Tiere, der eine seinen Kana-

rienvogel, der andere seinen Hund, seine Katze oder die Vögel

am Futterhäuschen. Warum tun wir das? Zum einen, weil

es uns einfach Spaß macht, Leben um uns zu haben und das

quirlige Treiben der Vögel am Futterhaus zu beobachten.

Andererseits wollen wir aber auch von unserem Hund erfah-

ren, wann ein Besucher kommt und vielleicht auch, ob dieser

Besucher eine freundliche Absicht hat oder eher nicht. Die

Kuschelkatze legen wir auf den Schoß unserer Kinder, wenn

es ihnen gerade mal nicht so gut geht, wenn sie Stress in der

Schule haben oder krank sind.

Damit ist eigentlich auch schon klar, was ICARUS für die

Menschheit bedeuten kann: Bisher konnten wir nur mit den

Tieren in unserer unmittelbaren Umgebung Kontakt auf-

nehmen und von ihnen lernen. In der Zukunft werden wir

weltweit mit Tieren kommunizieren können und von ihnen

erfahren, was denn gerade in der Welt vor sich geht. ICARUS

wird also ein Blindenhund für die Menschheit sein, der uns

ermöglicht, über die Sinne der Tiere in alle Winkel der Welt

zu schauen und somit Einblicke in das Leben auf der Erde be-

kommen, die wir bisher nicht gesehen oder verstanden haben.

WÜRMER ALS METEREOLOGEN

Eine solche Einsicht ist nicht neu. Alle Hochkulturen der Welt

hatten ihre speziellen Tiere, die sie für heilig hielten und denen

sie hohe Intelligenz und Persönlichkeit zugestanden. Die Inkas

hatten zudem ihre Kalenderwürmer, um das Wetter für

die Ernte im nächsten Jahr vorherzusagen. Das sind kleine

Invertebraten in der Gezeitenzone, die dort offensichtlich

besonders sensitiv auf nahende Umweltveränderungen rea-

gieren, denn wenn sich der Wasserspiegel oder die Wasser-

temperatur ändert, dann müssen diese Würmer abwandern

oder sterben. Das heißt, der Druck auf ihre Sensorsysteme,

diese zukünftigen Veränderungen ›vorherzusagen‹, ist natür-

lich sehr viel stärker als bei anderen, z. B. größeren oder mobi-

leren Tieren. Die ›Vorhersagen‹ dieser Würmer können von

uns Menschen als Indikator genutzt werden. Dasselbe gilt für

die Raben in der Kultur der Ureinwohner im nordwestlichen

Amerika oder für die Gänse im alten Rom, die vor feindlichen

Überfällen gewarnt haben sollen.

VOM SIEBTEN SINN DER TIERE PROFITIEREN

Zusammengenommen ist die Evidenz für spezifi-

sche Sinnesleistungen der Tiere so groß, dass wir

ja auch schon im normalen Sprachgebrauch vom

»siebten Sinn« der Tiere sprechen. Wenn wir uns

jetzt einfach vorstellen, dass wir die vielen verschie-

denen siebten Sinne der Tiere zusammenschlie-

ßen, also die der Kalenderwürmer, der Gänse, der

Raben, der Wale und der Leuchtkäfer, dann kann

man sich gut vorstellen, dass hier ein Wissen ge-

nutzt werden kann, das für die Menschheit von

allergrößtem Interesse ist. Biologisch gesprochen

würde man sagen, dass wir als Menschheit durch

eine Abfrage der evolvierten Sinnesleistungen der

Tiere in eine Situation versetzt werden, die einem

globalen Quantenzuwachs im Wissen über das

Leben auf der Erde entspricht. Oder anders gesagt:

Wie konnten wir als Menschheit bisher so naiv sein,

dass wir das evolvierte Wissen der Tiere nicht in

unser tägliches Wissen und unsere Vorhersagen

übernommen haben?

FELDÖKOLOGIE HEUTE

Auf demWeg zu einem solchenWissensschatz sind

viele technische und wissenschaftliche Hürden zu

nehmen. Die erste große Herausforderung war

die einer Änderung des Selbstverständnisses der

Feldökologie von Tieren. Bis vor nicht allzu langer

Zeit war das Selbstbild eines Feldökologen unge-

fähr das von Konrad Lorenz: Mit dicken Stiefeln,

einem Fernglas, einer Regenmütze und einer Pfeife

bewaffnet, stapft der Ökologe einsam sinnierend

durch die Wildnis und beobachtet dabei hin und

wieder die hinter ihm her trottenden Gänse. Auch

wenn diese Darstellung etwas übertrieben ist, gab

es in der Freilandökologie von Tieren bisher keinen

weltweiten Zusammenschluss von Forschungssys-

temen wie etwa in der Genomik, der Radioastro-

nomie oder der Physik, wie z. B. beim Teilchen-

beschleuniger CERN. Diese Sichtweise musste sich

links

Heimische Amsel mit einem Telemetriesender und einem

Positions-Logger. Zusammen erlauben uns diese elektronischen Ruck-

säcke, die Zugwege der Amsel genau zu beobachten und das

Individuum nach der Rückkehr aus dem Wintergebiet (in Frankreich

oder Spanien) wieder zu finden.

Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung des Max Planck-Instituts für Ornithologie in Radolfzell. © MaxCine