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aviso 1 | 2015
DIGITALE WELTEN
COLLOQUIUM
JEDER VON UNS
beobachtet gerne Tiere, der eine seinen Kana-
rienvogel, der andere seinen Hund, seine Katze oder die Vögel
am Futterhäuschen. Warum tun wir das? Zum einen, weil
es uns einfach Spaß macht, Leben um uns zu haben und das
quirlige Treiben der Vögel am Futterhaus zu beobachten.
Andererseits wollen wir aber auch von unserem Hund erfah-
ren, wann ein Besucher kommt und vielleicht auch, ob dieser
Besucher eine freundliche Absicht hat oder eher nicht. Die
Kuschelkatze legen wir auf den Schoß unserer Kinder, wenn
es ihnen gerade mal nicht so gut geht, wenn sie Stress in der
Schule haben oder krank sind.
Damit ist eigentlich auch schon klar, was ICARUS für die
Menschheit bedeuten kann: Bisher konnten wir nur mit den
Tieren in unserer unmittelbaren Umgebung Kontakt auf-
nehmen und von ihnen lernen. In der Zukunft werden wir
weltweit mit Tieren kommunizieren können und von ihnen
erfahren, was denn gerade in der Welt vor sich geht. ICARUS
wird also ein Blindenhund für die Menschheit sein, der uns
ermöglicht, über die Sinne der Tiere in alle Winkel der Welt
zu schauen und somit Einblicke in das Leben auf der Erde be-
kommen, die wir bisher nicht gesehen oder verstanden haben.
WÜRMER ALS METEREOLOGEN
Eine solche Einsicht ist nicht neu. Alle Hochkulturen der Welt
hatten ihre speziellen Tiere, die sie für heilig hielten und denen
sie hohe Intelligenz und Persönlichkeit zugestanden. Die Inkas
hatten zudem ihre Kalenderwürmer, um das Wetter für
die Ernte im nächsten Jahr vorherzusagen. Das sind kleine
Invertebraten in der Gezeitenzone, die dort offensichtlich
besonders sensitiv auf nahende Umweltveränderungen rea-
gieren, denn wenn sich der Wasserspiegel oder die Wasser-
temperatur ändert, dann müssen diese Würmer abwandern
oder sterben. Das heißt, der Druck auf ihre Sensorsysteme,
diese zukünftigen Veränderungen ›vorherzusagen‹, ist natür-
lich sehr viel stärker als bei anderen, z. B. größeren oder mobi-
leren Tieren. Die ›Vorhersagen‹ dieser Würmer können von
uns Menschen als Indikator genutzt werden. Dasselbe gilt für
die Raben in der Kultur der Ureinwohner im nordwestlichen
Amerika oder für die Gänse im alten Rom, die vor feindlichen
Überfällen gewarnt haben sollen.
VOM SIEBTEN SINN DER TIERE PROFITIEREN
Zusammengenommen ist die Evidenz für spezifi-
sche Sinnesleistungen der Tiere so groß, dass wir
ja auch schon im normalen Sprachgebrauch vom
»siebten Sinn« der Tiere sprechen. Wenn wir uns
jetzt einfach vorstellen, dass wir die vielen verschie-
denen siebten Sinne der Tiere zusammenschlie-
ßen, also die der Kalenderwürmer, der Gänse, der
Raben, der Wale und der Leuchtkäfer, dann kann
man sich gut vorstellen, dass hier ein Wissen ge-
nutzt werden kann, das für die Menschheit von
allergrößtem Interesse ist. Biologisch gesprochen
würde man sagen, dass wir als Menschheit durch
eine Abfrage der evolvierten Sinnesleistungen der
Tiere in eine Situation versetzt werden, die einem
globalen Quantenzuwachs im Wissen über das
Leben auf der Erde entspricht. Oder anders gesagt:
Wie konnten wir als Menschheit bisher so naiv sein,
dass wir das evolvierte Wissen der Tiere nicht in
unser tägliches Wissen und unsere Vorhersagen
übernommen haben?
FELDÖKOLOGIE HEUTE
Auf demWeg zu einem solchenWissensschatz sind
viele technische und wissenschaftliche Hürden zu
nehmen. Die erste große Herausforderung war
die einer Änderung des Selbstverständnisses der
Feldökologie von Tieren. Bis vor nicht allzu langer
Zeit war das Selbstbild eines Feldökologen unge-
fähr das von Konrad Lorenz: Mit dicken Stiefeln,
einem Fernglas, einer Regenmütze und einer Pfeife
bewaffnet, stapft der Ökologe einsam sinnierend
durch die Wildnis und beobachtet dabei hin und
wieder die hinter ihm her trottenden Gänse. Auch
wenn diese Darstellung etwas übertrieben ist, gab
es in der Freilandökologie von Tieren bisher keinen
weltweiten Zusammenschluss von Forschungssys-
temen wie etwa in der Genomik, der Radioastro-
nomie oder der Physik, wie z. B. beim Teilchen-
beschleuniger CERN. Diese Sichtweise musste sich
links
Heimische Amsel mit einem Telemetriesender und einem
Positions-Logger. Zusammen erlauben uns diese elektronischen Ruck-
säcke, die Zugwege der Amsel genau zu beobachten und das
Individuum nach der Rückkehr aus dem Wintergebiet (in Frankreich
oder Spanien) wieder zu finden.
Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung des Max Planck-Instituts für Ornithologie in Radolfzell. © MaxCine