aviso 1 | 2015
DIGITALE WELTEN
COLLOQUIUM
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als erstes ändern, denn die Fragestellungen und die Aufgaben einer
zukünftigen Freilandökologie sind global. Tiere wandern zu jeder
Zeit und ohne Beschränkungen zwischen Ländern und Kontinenten,
zwischen dem Nord- und Südpol.
DIE ZWEITE GROSSE
Hürde war das Fehlen einer technischen Infrastruk-
tur, die es den Feldökologen erlaubt, ihre wissenschaftlichen Fragen zu
beantworten. Während in der Ozeanografie, der Physik, der Radioastro-
nomie, der Genomik große technische Systeme eingerichtet wurden,
um große Fragen der Menschheit zu beantworten, z. B. zum Beginn
des Universums oder zum Anfang des Lebens, gab es für die Freiland-
biologie bisher keine vergleichbaren Systeme.
HERAUSFINDEN, WO SINGVÖGEL STERBEN
Wie sollte denn ein solches System aussehen? Am besten kann man diese
Frage aus der wissenschaftlichen Notwendigkeit für signifikante Daten
beantworten, die es bisher über Tiere nicht gibt. Die größten Defizite
in unserer Datenlage bestehen über die Jugendentwicklung von Tieren,
d. h. wir verstehen nicht, wie ein Jungtier erlernt, seine Umgebung zu
erkunden, wie es während seines Lebens von anderen lernt und welche
Erfahrungen es während seiner Jugendentwicklung gemacht hat. Aus
unserem eigenen Leben wissen wir natürlich, dass diese Erfahrungen
essenziell für unser gesamtes Leben sind. Bei Tieren ist das nicht an-
ders, aber wir verstehen von der Jugendentwicklung bisher nur sehr
wenig. Weiterhin wissen wir leider immer noch nicht, zumindest bei
den meisten Tierarten, wo sie während ihres Lebens Probleme haben
oder warum sie sterben, d. h. wir können nicht festlegen, welche Selek-
tionsfaktoren auf Tiere einwirken. Es geht also genauer gesagt, um die
Fragen: Wie, warum und wo stirbt ein Individuum? Bei kurzem Nach-
denken ist dies natürlich die wesentlichste Frage der Biologie. Wenn
wir die Antworten auf diese Fragen finden, können wir beantworten,
warum es ein Bienensterben gibt, wo unsere Singvögel sterben und
wie wir sie auf ihrem langen Weg von Europa nach Afrika und zurück
schützen können. Wir wären zudem in der Lage festzulegen, wie wir
die natürlichen Nahrungsgrundlagen der Menschheit, z. B. die Fische
in den Ozeanen, erhalten können.
EIN GLOBALES TIERBEOBACHTUNGSSYSTEM
Ausgehend von diesen beiden großen Fragen der Biologie ist klar, wel-
ches technische System benötigt wird. Wir brauchen individuelle Daten
über einzelne Tiere und deren Verhalten über ihre gesamte Lebenszeit.
Vergleichbare Daten erhalten wir im Moment über die Mobiltelefone
einzelner Menschen, wenn diese über lange Zeit ständig mitgetragen
werden.
FÜR DIE TIERWELT
kann man sich etwas Ähnliches vorstellen: Im Nach-
gang zu Sputnik konnte in den 60er Jahren die Tiertelemetrie etabliert
werden, allen voran von unseren Kollegen Bill Cochran und George
Swenson aus Illinois/USA. Interessanterweise ist der 93-jährige George
Swenson auch der Konstrukteur des VLA – Very Large Array, des größten
Radioteleskop Komplexes in Amerika. In Zusammenarbeit mit George
entstand während eines Studentenkurses in Panama, mitten imRegen-
wald, die Idee, Radioquellen nicht imUniversum, sondern auf der Erde
vomWeltall aus zu beobachten und damit die Grundlage für ein globa-
les Tierbeobachtungssystem zu schaffen. Die Beobachtung dieser Radio-
oben
Ziege am Etna mit einem hochauflösen-
den Beobachtungshalsband der ersten
Generation (von 2010), das Bewegungsmus-
ter und GPS Positionen der Ziegen am
Etna erfasst.
darunter
Martin Wikelski auf der russischen
Arktisinsel Kolguyev beim Auslesen der Daten
von Rucksacksendern auf Blässgänsen.
darunter
Bildschirmausschnitt aus der frei
verfügbaren App, dem ›Animal Tracker‹. Grüne
Kreise zeigen Gruppen besenderter
Tiere an, grüne Störche zeigen die Position
von freilebenden Störchen in Echtzeit.
unten
Ausflug der Palmenflughunde aus dem
Kasanka Park in Zambia. Geschätzte
8 Millionen Flughunde treffen sich im Dezem-
ber im südlichen Afrika und leben für
einige Wochen zusammen in der größten
Flughundkolonie Afrikas.