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aviso 2 | 2016

FREMDE, IN DER FREMDE

WERKSTATT

Ich möchte nochmals betonen, dass es sich bei dieser Strei­

chung nicht um eine oberflächliche Political-Correctness-Kos­

metik handelt, sondern um etwas, das tief in unsere Sprache

und unser Bewusstsein hineinwirkt.

Sprache und Verantwortung

In ihrembemerkenswerten Buch

Mein weißer Frieden

, in dem

sich Marica Bodroži´c, deutsche Schriftstellerin kroatischer

Herkunft, mit den Kriegen während und nach der Auflösung

Jugoslawiens auseinandersetzt, beschäftigt sich die Autorin

ausführlich mit der Rolle, die Sprache als Propaganda- und

Herrschaftsinstrument spielt, und damit, was sie dabei an­

richten kann. So erinnert Bodroži´c daran, dass die allerers­

ten Granaten, die auf das tapfere und geschundene Sarajevo

fielen, »Sprachgranaten« waren und der feige Mord an dem

Idealisten Zoran Djindji´c »in einer hetzerisch-derben Spra­

che schon lange vorbereitet« war. Bodroži´c bezieht sich bei

ihren Analysen immer wieder ausdrücklich auf Martin Buber

und den von ihm beschriebenen Zusammenhang zwischen

Sprache undMenschlichkeit. Bei Buber steht ein »sprachlich

zentrierter Humanismus« im Mittelpunkt, die »Ehrfurcht

vor demWort«. Das erfordert natürlich von jedem einen ver­

antwortlichen Umgang mit der Sprache und den Versuch,

sich möglicher Folgen ihres Gebrauchs und Missbrauchs

bewusst zu werden. Man stelle sich zum Beispiel vor, was

die antisemitischen Phrasen des suggestiv sprachmächtigen

Dickens bewirken, wenn sie sich, vorgelesen, ins Bewusst­

sein von Kindern regelrecht einfräsen, »weil der Antisemi­

tismus durch den literarischen Genius verstärkt wird«. Was

für ein Bild wird sich da imGeiste festsetzen? Jeet Heer fasst

zusammen: »Der Jude ist schmutzig, der Jude ist ein Verbrecher,

der Jude ist ein Verderber der Kinder, der Jude schätzt Geld

höher als menschliche Beziehungen, der Jude steht mit Gift in

Verbindung, der Jude ist ein Verräter imStile Judas’, der Jude

ist ein Tier, der Jude ist ein Mörder, der Jude ist der Teufel.«

Dickens späteres Umdenken in seiner Haltung zur Verwendung

antisemitischer Klischees dürfte auchmit diesemWissen um

Verantwortung zu tun gehabt haben. Und unterschätze nur

niemand die Beständigkeit und Hartnäckigkeit bösartiger

Klischees. Als sichWill Eisner, der Nestor der Graphic Novel,

daranmachte, Material für seine Adaption von

Oliver Twists

Fagin the Jew

zu sammeln, fiel ihmFolgendes auf: »BeimSich­

ten der Illustrationen der Originalausgabe von

Oliver Twist

fand ich unzweifelhafte Beispiele optischer Diffamierung in

der klassischen Literatur. Die Erinnerung an ihre schreckli­

che Verwendung durch die Nazis imZweitenWeltkrieg ist ein

weiterer Beleg für die Langlebigkeit bösartiger Klischees.«

Die Meyrinksche Übersetzung

Bevor ich auf einige Rezensionen zu meiner Übersetzung ein­

gehe, ist es angebracht, einen Blick auf die Twist-Übersetzung

von Gustav Meyrink zu werfen – die wohl nach wie vor mit

amweitesten verbreitet und allgemein wohlgelitten ist –, weil

in den Besprechungen immer wieder darauf Bezug genom­

men wird. Meyrinks Übersetzung ist ursprünglich 1916 im

Albert Langen VerlagMünchen erschienen; inzwischen gibt es

davon aber mehrere Lizenzausgaben und vor allem auchHör­

bücher. Der Übersetzer hat Dickens’ Text höchst eigenwillig

»gestrafft« und recht frei ins Deutsche übertragen. Auch bei

Meyrink betrifft die auffälligste Änderung gegenüber dem

Original Fagin. Sein Fagin jiddelt, was er bei Dickens mit­

nichten tut, dort spricht er zumeist ein gepflegtes Englisch,

was ihn von seinen Kumpanen abhebt. Meyrinks Fagin da­

gegen »jiddelt (wie der Übersetzer G. Meyrink Prager Juden

in seinem

Golem

jiddeln ließ) oder spricht in jüdisch idio­

matischen Wendungen […]«, schreibt Dietmar Pertsch. Er

zitiert folgende Stelle als Beispiel: »›Weigeschrieen, Gott über

die Welt‹, jammerte Fagin, ›und was sagen denn Sie, Nancy­

leben? Das is e Gerechtigkeit?‹«

BEI DICKENS HEISST

es dagegen so: »›This is hardly fair,

Bill, hardly fair, is it, Nancy?‹ inquired the Jew«, was ich wie

folgt übersetzt habe: »›Das ist kein ehrlich Spiel, Bill, kein

ehrlich Spiel, nicht wahr, Nancy?‹, sagte der alte Hehler.«

Die Umgangssprache der einfachen Leute und Ganoven wird

von Meyrink zuweilen – aber keineswegs durchgängig – mit

Dialektbrocken wiedergegeben. So berlinern Bill Sikes und

Nancy hin und wieder. Unter anderem heißt es bei Meyrink:

»›Det gloob ick ooch‹, erwiderte die junge Dame«, womit jede

Illusion, man befände sich im viktorianischen London, in sich

zusammenstürzen dürfte. ImOriginal steht dagegen schlicht

»›I should think not!‹ replied the young Lady«. Für die Ein­

schätzung des Stellenwerts der Meyrinkschen Übersetzungen

ist vielleicht auch folgender Passus aus dem Eintrag in der

Neuen Deutschen Biographie

aufschlussreich: »M.s Traum,

frei von finanziellen Verpflichtungen, die seit dem Konkurs

in Prag auf ihm lasteten, zu leben, erfüllte sich trotz eines

monatlichen Fixums vom Verlag des ›Simplicissimus‹ nicht.

So übernahm er 1909 den Auftrag einer Dickens-Übersetzung,

die er in kurzer Zeit fertigstellte, indem er mit Hilfe eines Dik­

tiergeräts (Parlograph) vom Blatt übersetzte.«

Reaktionen

Von den zweiundzwanzig Rezensionen oder Buchhinweisen,

die mir zumeiner Übersetzung bekannt sind, äußern sich die

allermeisten positiv zur Sprache und heben die Qualität von

Anmerkungen und Nachwort hervor. Jedoch gehen nur vier

auf die Problematik mit dem »Juden Fagin« ein.

Den Anfang machte Hannes Stein in DieWELT. Sein Bild von

der ethnisch-religiösen Kennzeichnung »Jude« als aufgemal­

temSchnurrbart entspricht ziemlich genaumeiner Äußerung

imNachwort, dass das Verständnis der Geschichte durch die

Streichung nicht im Geringsten beeinträchtigt würde. Stein

schreibt: »Die Übersetzung von Axel Monte ist schön und

zuverlässig, er trifft den ironisch-sarkastischen Ton genau.

Bemerkenswert ist seine deutsche Nachschöpfung aber auch

aus folgendemGrund: Dickens hat mit Fagin eine der großen

antisemitischen Figuren der englischen Literatur geschaf­

fen, ein veritables Monster. (Die andere große antisemitische

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Ausschnitt aus Will Eisner, Ich bin Fagin. Köln, 2015, mit freundlicher Genehmigung von Egmont Graphic Novel