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Die Interviews

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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15

Die Tür war offen und wir waren frei

Am 18. Januar begann der Todesmarsch. Ich habe mit

meinen Kameraden gesprochen, dass wir weglaufen wer-

den. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon 22 Monate in

Auschwitz, das war sehr viel; normalerweise kann man in

Auschwitz nur drei bis vier Monate überleben. Nur wenn

man ganz spezielles Glück hat. So wie ich, weil ich den

älteren Häftling getroffen habe, der mir geholfen hat; also

ich hatte viel Glück. Ich hatte mein ganzes Leben eine

gute Beziehung zu diesen Leuten, solange sie gelebt haben.

Aber wir waren sehr, sehr müde. Wir sind 60 Kilometer

in zwei Tagen gegangen und wir wollten am selben Tag

noch weglaufen. Wir sind nach

Gleiwitz

gekommen. Das

Lager war voll von Häftlingen von anderen Lagern. Also

ging ich zu einer Pritsche, wo Menschen lagen und habe

gesagt: „Rutsche ein bisschen.“ Und der Mann, der auf der

Pritsche liegt, sagt: „Wer bist du?“ Und ich meine: „Ich

bin so müde, ich will mich hinlegen.“ Und er gibt mir

eine Taschenlampe. Und ich erkenne ihn, das war mein

Bruder. Ich habe ihn zwei Jahre nicht gesehen, er war im

Lager von

Plaszow

. Aber er wollte nicht weglaufen.

Poldek und seine Freunde versteckten sich im oberen

Stockwerk der Baracke. Suchtrupps, die entflohenen Häftlin-

gen nachspürten, sahen beim Verlassen des Lagers auch unter

den Betten nach. Doch sie hatten nicht viel Zeit und konnten

sich also nicht gründlich umsehen. Die entflohenen Männer

blieben, wo sie waren.

Wie lange kann man so liegen? Es ist Januar in Polen,

es ist kalt. Wir liegen so ohne Bewegung, schon fast zehn

Stunden, also müssen wir runtergehen, weil wir nicht wei-

ter dort bleiben können. Und das Lager war leer, die Türe

war offen und wir sind frei. Wir sind frei!

Sie schafften es, in tiefster Nacht bis zu einem kleinen

Dorf zu fliehen, und als sich endlich eine der vielen Türen,

an die sie geklopft hatten, öffnete, gaben sie sich als Polen aus

und wurden eingelassen. Sie blieben eine ganze Woche bei

dem Mädchen, das ihnen geöffnet hatte, und als die Russen

kamen, waren sie frei.

Der schwerste Tag in meinem Leben

Ich bin nach Krakau heimgekommen am 2. Februar 1945,

das war genau zwei Wochen, nachdem ich geflohen bin.

Und der schwerste Tag in meinem Leben, das war dieser

Tag. Ich bin in die Stadt gekommen, in der ich geboren

wurde, wo ich fast in jedem Haus Freunde hatte, eine

Stadt, in der ziemlich viele Juden gelebt hatten.

Und ich kenne sie nicht mehr. Die Stadt ist leer von

Juden. Ich habe keine Familie mehr, habe viele Kameraden

verloren, viele Freunde. Es waren vielleicht 600 Juden, die

noch in Krakau waren, als ich wiederkam. Damals habe

ich gesagt, ich muss dort raus, ich kann so nicht leben.

In Auschwitz lebst du von einer Stunde zur zweiten.

Aber es war der erste Tag und du bist frei. Deine Stadt.

Und du siehst, wie schrecklich die Lage ist. Dass du alleine

bist.

Der Interviewte zeigt ein Porträt aus seiner Jugendzeit.

Foto: Christian Oberlander

Wir beschmierten die Brote mit Arsen

Poldek wollte nicht in Polen bleiben, weil es dort immer noch

Judenhass gab. Also reiste er über Rumänien nach Italien

und schließlich nach Israel. Er trat der Rächergruppe Nakam

bei. Diese wollte Rache nehmen an den Deutschen für die

Verbrechen, die sie den Juden angetan hatten. Er ging ein

paar Monate später mit Anhängern dieser Untergrundgruppe

nach Nürnberg, sie schlichen sich in eine Bäckerei, die ein

nahegelegenes SS-Lager belieferte, und beschmierten nachts

die Brote mit Arsen, um die dort lebenden SS-Täter zu vergif-

ten. Das Arsen war jedoch von anderen Mitgliedern Nakams,

die die Aktion verhindern wollten, bereits so sehr verdünnt

worden, dass sich niemand an den bereits bestrichenen Broten

vergiftete.

Heute distanziert sich Poldek allerdings von diesen Rache-

akten. Er hält es für besser, Jugendlichen von seinem Schicksal

zu erzählen, und sie an die Untaten ihrer Vorfahren zu erin-

nern. Zu diesem Zweck ist er auch einige Male nach Deutsch-

land gereist.