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Die Interviews

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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15

sie dann gleich erschossen werden würde oder Ähnliches.

Da haben wir sie im Bett versteckt. Im Ghetto gab es eine

jüdische Polizei und die wurde von der deutschen – der

Teufel weiß, was es war – begleitet. Wir dachten uns, die

jüdischen Polizisten sind bestimmt hungrig. Da legten wir

ein Brot auf den Tisch. Ein ganzes Brot und das war wie

eine Million. Wir dachten, vielleicht sehen sie das Brot

und dann suchen sie nicht in der Wohnung. Auch wenn

diese Ration verloren gegangen ist, hat es sich gelohnt,

denn wir sind zurückgekommen und die Polizisten haben

meine Schwester nicht gefunden. Zwei Tage später ist sie

gestorben. Und ob sie das Brot genommen haben oder

nicht, daran kann ich mich nicht mehr erinnern.

Dieses und nächstes Bild: Rena Wiener zeigt Fotos aus ihren Alben.

Fotos: Anja Schoeller

Das Geschrei höre ich bis heute in der Nacht

Ende August 1944 ist auf einmal ein Befehl gekommen,

dass das Ghetto liquidiert wird, und wir mussten gehen.

Wir wussten nicht wohin. Wir wussten nichts von Ausch-

witz. Manche Leute haben

Untergrund-Radio

gehört und

wussten davon. Uns wurden viele verschiedene Sachen

erzählt. Wir wussten nicht, was wahr ist und was falsch.

Und das muss ich unterstreichen: Alle Gespräche gingen

nur um Hunger, Hunger, Hunger und noch einmal Hun-

ger. Wir haben schrecklich unter Hunger gelitten.

Man brachte uns schließlich nach Auschwitz. Wir

waren dort zunächst fünf Tage lang im

Zigeunerlager

. Das

Geschrei höre ich bis heute in der Nacht. Dann hat man

uns das Haar abgeschnitten, aber keine Selektion durch-

geführt. Und man hat uns im Viehwagen nach

Stutt-

hof

gefahren, das liegt neben Danzig

.

Wir mussten dort

in einer Fabrik arbeiten und haben Kerngeschosse für

die Armee hergestellt. Alle haben in der Fabrik gearbei-

tet, sogar die Kinder ab sieben Jahren. Aber dort gab es

eine Möglichkeit sich zu waschen und jeder hat ein Bett

gehabt. Es war ein bisschen menschlich. Das Essen war

zwar sehr knapp, aber wir waren damit zufrieden.

Nicht begraben, sondern „kremiert”

Apropos, als die Deutschen gehört haben, dass der Krieg

zu Ende ist, da waren ungefähr noch 500 bis 700 Mädchen

aus Krakau in Stutthof, die hat man alle im baltischen Meer

ertränkt. Zu dieser Zeit war ich schon nicht mehr dort.

Im Jahr 1945 waren wir in Dresden. Dort ist meine

Mutter gestorben. Ich war damals 18 Jahre alt und meine

Mutter erst 46 Jahre. Ich glaube, sie hatte eine Grippe.

Genau weiß ich nicht, was es war, aber sie ist gestorben.

Man hat ihre Leiche weggenommen und ich wusste nicht,

wo und ob sie begraben ist. Erst nach dem Krieg habe

ich herausgefunden, dass meine Mutter kremiert wurde.

Nicht begraben, sondern kremiert. Es gibt in Dresden

ein Krematorium, ich habe das Bild, da steht der Name

„Rachela Razinger – 46 Jahre“ geschrieben.

Wie ihr wisst, war in Dresden ein großes Bombarde-

ment. Ich glaube, eines der größten, und das haben die

Engländer und Amerikaner gemacht. Und es sind viele

Deutsche umgekommen. Wir, 480 Juden, haben alle

überlebt. Keinem ist etwas geschehen. Wieso das passiert

ist, kann ich nicht sagen.

Dann mussten wir über

Pirna

16 Tage lang, schlecht

ausgestattet, nach Theresienstadt laufen. Und dort gab

es sehr viele Typhuskranke. In den Spitälern lagen russi-

sche Gefangene und auch verschiedene andere Menschen.

Meine Schwester und ich arbeiteten dort und wurden

zum Glück nicht krank. Warum, das weiß nur Gott.